„Ich will auch die ins Boot holen, die bisher nichts von Nachhaltigkeit halten.“

Er sei ein Pragmatiker mit klaren Überzeugungen, sagt der neue Generalsekretär des RNE, Marc-Oliver Pahl, von sich selbst. Ein Gespräch über Corona als Chance, Videokonferenzen im ICE und wie man trotz Rückschlägen nicht die Richtung verliert.

Herr Pahl, das 1,5-Grad-Ziel scheint kaum noch erreichbar zu sein. Trotzdem gibt es Aufbruchstimmung, einen Green Deal in Europa und weltweit Fridays for Future. Wie würden Sie das Jahr einordnen, in dem Ihre Arbeit als Generalsekretär des Rates für Nachhaltige Entwicklung beginnt?

Mein Start als Generalsekretär war geprägt von der Corona-Krise und dem Lockdown. Es gibt nach meiner Erfahrung zwei Logiken mit Corona umzugehen. Manche Akteure sagen, jetzt müssen wir Unternehmen retten und können uns den Krimskrams Nachhaltigkeit nicht mehr leisten. Aber viele andere sagen, jetzt ist die Zeit um nochmal grundsätzlich über unser Wirtschaftsmodell und unseren Lebensstil nachzudenken. Wohlstand und Autos, sind das wirklich die wichtigsten Dinge im Leben?

Auf der Online-Konferenz des Rates im Juni wurden die Teilnehmenden virtuell gefragt, was ihnen einfällt, wenn sie Corona plus Nachhaltigkeit hören. Die häufigste Antwort war: Chance.

Ja, ich denke, dass so eine Zäsur die Chance ist, aus dem normalen Trott herauszukommen. Jetzt ist eine Stunde Null auf uns niedergeprasselt. Ob wir den Turnaround schaffen oder wieder den alten Gewohnheiten verfallen, wird sich in den nächsten ein bis zwei Jahren entscheiden.

Ist das Ihre erste große Aufgabe beim Rat: Bei der anstehenden Richtungsentscheidung die Weichen Richtung Nachhaltigkeit zu stellen?

Auf jeden Fall. Das wäre es auch ohne Corona gewesen, aber jetzt gibt es neue und konkrete Ansatzpunkte, die zeigen, wozu beispielsweise eine Umorientierung in der Mobilität führen kann. Natürlich kann es nicht das Ziel sein, Zeiten wie im April zu haben, wo niemand mehr draußen war und man am Potsdamer Platz die Vögel zwitschern hörte, weil nur alle fünf Minuten ein Auto vorbeikam. Aber viele Leute haben gefühlt, wie anders leben und arbeiten geht, etwa im Homeoffice. Das nehmen sie in die Zukunft mit.

Teilen Sie die Sicht, dass wir klimatisch in Kipppunkte reinrutschen und der Wandel zu spät ist, wenn wir jetzt nicht das Ruder herumreißen?

Das teile ich absolut. Wir sind beim Klima, und nicht nur da, längst über unserem Budget. Wir haben Ökosysteme so verändert, dass sie nicht mehr stabil sind. Aber, und das unterscheidet mich und den Rat von der Ungeduld der Fridays for Future-Leute: Wir sind so realistisch, dass wir wissen, dass man den Wandel nicht auf Knopfdruck herbeiführen kann. Widerstände kann man nicht einfach wegwischen. Was jetzt ansteht, ist in der Tat nur noch mit deutlichen Veränderungen hinzubekommen. Aber gerade deswegen müssen, wir die Menschen auf diesem Weg mitnehmen. Es wird auch Verlierer des Wandels geben. Um diese Menschen und ihre Ängste müssen wir uns auch kümmern, ihnen eine Perspektive geben, Übergangslösungen vermitteln, Umbrüche abfedern.

Wie wollen Sie vermitteln?

Man kann es machen wie beim Kohleausstieg und von staatlicher Seite viel Geld für das Abfedern in die Hand nehmen. Aber nach Corona werden wir erst recht nicht mehr alle Probleme mit staatlichem Geld lösen können. Man kann es alternativ mit guter Regulierung machen oder mit der Nutzung von Marktmechanismen. Aber man sollte auch auf die Eigenverantwortung der Menschen und Unternehmen setzen. Meine Leitlinie ist, etwas von allem zu nehmen.

Sind Sie als promovierter Jurist nicht eher Anhänger einer starken Ordnungspolitik?

Ich habe schon eine Vorliebe für den richtigen ordnungspolitischen Rahmen. Das kann aber auch einer sein, in dem Anreizsysteme und Marktmechanismen funktionieren. Aber alles im Detail rechtlich zu regeln, das ist auch nicht sinnvoll. Wenn sie den Leuten zu viel vorschreiben und sie nicht überzeugen, dann wird auch das beste Gesetz nur halbherzig umgesetzt. Dann erreichen wir gesetzlich festgelegte Ziele, wie zum Beispiel die Klimaziele, nicht.

Der Rat hat eine Fülle an Themenfeldern: Öffentliche Infrastruktur stärken, nachhaltige Finanzsysteme ausbauen, Green Deal in Europa, Lieferkettengesetz, Wasserstoffstrategie, Covid-19 und ein Wiederaufbau im Sinne der Nachhaltigkeit, den gesellschaftlichen Dialog über das alles forcieren. Wo setzen Sie Schwerpunkte?

Ein Punkt, den wir intensiv bearbeiten wollen, ist die Frage, wie wir das Ziel der Klimaneutralität bis 2050 praktisch hinbekommen. Das Erneuerbare-Energien-Gesetz, das EEG, war ganz wichtig, um die Erneuerbaren voranzubringen, technologisch und wirtschaftlich. Aber es hat sich im Laufe der Zeit in ein sehr kompliziertes Gebilde mit vielen Ausnahmen und Gegenausnahmen entwickelt. Die erneuerbaren Energien sind heute größtenteils wettbewerbsfähig. Insofern können wir das EEG umbauen. Wir müssen den Akzent stärker auf neue Flächen für Windkraft und Photovoltaik setzen und deren Akzeptanz erhöhen.

Müssen sich die Menschen auch individuell ändern?

Eine Veränderung des individuellen Verhaltens ist aus meiner Sicht sehr wichtig. Wir sollten uns auch mit dem Konzept der Suffizienz auseinandersetzen. Aber sie werden wenig Freunde haben, wenn sie das als Monstranz vor sich hertragen. Man muss die Leute zum Verzicht ermuntern, statt das Gewissen zu quälen. Wichtig ist, dass viele mit gutem Vorbild vorangehen und dadurch andere motivieren mitzumachen. Ich will auch die ins Boot holen, die bisher nichts von Nachhaltigkeit halten.

Was lassen Sie denn weg?

Nur ein paar Beispiele: Ich fahre fast nur Rad und Bahn, esse sehr wenig Fleisch, stattdessen viel saisonales Obst und Gemüse, gerne Bio und/oder Fairtrade. Wann immer es geht, kaufe ich Produkte mit dem Blauen Engel. Unser Haus ist sehr energieeffizient und ich nutze Ökostrom. Das ist alles keine Hexerei. Vieles davon lässt sich leicht nachmachen. Wenn man bewusst kauft und gut überlegt, ist nachhaltiges Leben in der Summe auch nicht teurer.

Und zur Familie nach Nordrhein-Westfalen fahren Sie mit dem ICE?

Ja, klar. Das war zu Beginn der Corona-Krise richtig angenehmen, man hatte häufig einen ganzen Waggon für sich alleine und das WLAN hat endlich richtig funktioniert. Da konnte man sogar Videokonferenzen aus dem Zug heraus machen. Ich fahre jetzt natürlich auch noch Zug und arbeite währenddessen meist sehr effizient, weil es weniger Unterbrechungen gibt als im Büro. Man kann aus dem Nachteil des Pendelns also auch einen Vorteil machen. Die reale Zeitersparnis des Fliegens wäre auf der Strecke Berlin-Düsseldorf ohnehin nicht besonders groß. Apropos Reisen und Umwelt: Es ist wichtig, hier bestehende Fehlanreize abzuschaffen. In den Reiserichtlinien der GIZ stand bis vor Kurzem tatsächlich noch, dass man das günstigste Verkehrsmittel nutzen muss. Das kann dann schnell mal ein Flieger sein. Das ist inzwischen geändert. Und die Dienstwagen-Steuerprivilegien gehören erst recht abgeschafft. Die sind klimaschädlich und sozial höchst ungerecht.

In NRW haben Sie zehn Jahre an der Nachhaltigkeitsstrategie des Landes gearbeitet. Hat Sie das gelehrt, pragmatisch bei der Umsetzung von Nachhaltigkeit zu denken? Sie sind ja auch noch ausgebildeter Diplomat, das klingt, als sei Pragmatismus ihr Naturell?

Wenn es sein muss, dann benenne ich Dinge sehr deutlich und bin weniger diplomatisch. Sonst geht man mit seinen Argumenten leicht unter. Aber ja, Pragmatismus ist schon mein Naturell. Ich renne nicht mit Ideologien und ewigen Wahrheiten durch die Gegend und sage: So muss es sein und alle anderen Lösungen sind falsch. Aber wenn man nur pragmatisch ist und keine Grundorientierung hat, verliert man sich schnell im Klein-Klein. Eine Mischung aus Grundwerten, die man im Blick behält, und Pragmatismus beim Erreichen der Ziele, das ist meine persönliche Herangehensweise.

Sie haben in NRW unter zwei Ministerinnen und einem Minister das Thema Nachhaltigkeit bearbeitet. Wie schwer ist diese tägliche Arbeit im Kleinen?

Nachhaltigkeit ist einerseits Sisyphusarbeit. Man muss sich in vieles einmischen, um das Leitprinzip der Nachhaltigkeit praktisch wirksam zu machen. Man darf sich aber eben auch nicht in Details verlieren, sonst reibt man sich auf. Manchmal muss man einen Schritt zurücktreten und schauen, ob man wirklich auf dem Weg zum Ziel ist oder sich verlaufen hat.

Was war ihre Sisyphusarbeit?

Was mich lange beschäftigt hat, war die Frage der nachhaltigen öffentlichen Beschaffung. Was kaufen Bund, Länder und Kommunen ein? Es geht um viel Geld, laut McKinsey in Deutschland um die 400 Milliarden Euro im Jahr. Davon sind vielleicht 100 Milliarden nachhaltig investierbar, weil es um Gebäude, IT, Dienstfahrzeuge, Kantinen oder Arbeitsbekleidung geht. Mit einer solchen Marktmacht kann man schon etwas verändern.

Konnten Sie denn in NRW auf dem Feld etwas bewegen?

Wir haben 2010 unter einer schwarz-gelben Landesregierung mit einem internen Erlass zur Berücksichtigung von ökologischen und sozialen Aspekten beim Einkauf des Landes angefangen. Daran haben wir unter Rot-Grün angeknüpft und die Regeln in ein Gesetz geschrieben, um auch die Kommunen einzubinden. Beim Thema Energie war nachhaltige Beschaffung recht einfach zu definieren, bei der Recyclingfähigkeit oder der Langlebigkeit eines Produktes war es schon schwieriger. Soziale Fragen einzubeziehen, wie etwa sicherzustellen, dass ein Produkt ohne Kinderarbeit gefertigt wurde, das ist dann richtig schwer zu regeln. Schon unter Rot-Grün wurde das Gesetz dann aber entschlackt und nach dem erneuten Regierungswechsel zu Schwarz-Gelb wurde das Gesetz dann in 2017 total entkernt. Sie sehen, manchmal dreht man sich im Kreis.

Wie sieht denn heute die praktische Arbeit in Berlin aus, um den Auftrag der Bundesregierung umzusetzen?

Die Kanzlerin hat bewusst 15 Ratsmitglieder mit sehr unterschiedlichen Hintergründen und Interessen benannt. Sie beziehungsweise die Bundesregierung versprechen sich davon, dass die Empfehlungen, die eine solch divers zusammengesetzte Gruppe erarbeitet, auch für die Politik interessant sind, zum Beispiel, um gesellschaftliche Blockaden zu überwinden. Die Aufgabe von mir und den Kolleginnen und Kollegen in der Geschäftsstelle des RNE ist es, die Ratsmitglieder bei der Erarbeitung von Empfehlungen und der Kommunikation dieser Positionen bestmöglich zu unterstützen. Mit unserer eigenen Expertise, aber auch über einen organisierten Austausch mit Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Zivilgesellschaft.

Haben Sie eine Standleitung zu Kanzleramtsminister Helge Braun, der ja dafür zuständig ist, Themen der Nachhaltigkeit im Kanzleramt zu bündeln?

Diese Art von Kommunikation ist der Job des Ratsvorsitzenden Werner Schnappauf. Meine Kolleginnen und Kollegen und ich kommunizieren mit den anderen Ebenen in den Ministerien. Wir gehen der Bundesregierung dabei manchmal ganz gehörig auf den Wecker mit unseren Nachfragen und unserem Beharren auf langfristigen Zielen. Es gibt ein Vertrauensverhältnis, aber keinen Schmusekurs.

Gehen Sie auch mal öffentlich auf den Wecker?

Unser Mandat sieht nicht nur die Beratung der Bundesregierung vor, sondern auch, den öffentlichen Diskurs zu fördern. Das kann man nicht nur hinter verschlossenen Türen. Beim Lieferkettengesetz oder der Wasserstoffstrategie haben wir bereits wichtige Themen öffentlich platziert. Wir haben auch das Mandat, über Modellprojekte Impulse zu setzen. Das machen wir etwa mit dem Deutschen Nachhaltigkeitskodex, den Regionalen Netzstellen Nachhaltigkeitsstrategie – also RENN, oder dem Fonds Nachhaltigkeitskultur.

Wenn die Wirtschaftsweisen ihr Herbstgutachten vorstellen, ist das eine Meldung in der Tagesschau. Für Nachhaltigkeit gibt es dazu kein Äquivalent. Ist das ein Zeichen, dass das Thema noch zu klein ist?

Nein, im Gegenteil. Das Thema ist zu groß und zu komplex. Es ist daher schwer, es in den Medien unterzubringen – was jetzt keine Medienschelte sein soll. Es ist unsere Aufgabe, Nachhaltigkeitsthemen so herunterzubrechen und zuzuspitzen, dass sie über die Medien zu den Menschen gelangen. Dafür muss man dann auch mal komplexe Sachverhalte vereinfacht darstellen und klare Schwerpunkte setzen. Die Bundesregierung traut sich in ihrer Nachhaltigkeitsstrategie allerdings nicht deutliche Schwerpunkte zu setzen. Das ist einerseits fachlich nachvollziehbar, weil es eine politische Pflicht gibt, alle 17 globalen Nachhaltigkeitsziele gleichermaßen anzustreben. Andererseits gibt es dann keinen Zugang zur Tagessschau. Mit unseren Empfehlungen zu einem nachhaltigen Weg aus der Corona-Krise war unsere stellvertretende Vorsitzende Imme Scholz Anfang Juni im ARD Extra zu sehen, direkt nach der Tagesschau. Wir nähern uns also langsam den Hauptnachrichten.

Ihr Vorgänger Günther Bachmann war 19 Jahre beim Rat. Wenn Sie es ihm gleichtun und 2039 zurückblicken, haben wir dann die Transformation geschafft?

Ich plane nicht, den Job ebenfalls 19 Jahre zu machen, werde mich aber sicherlich auch noch in 19 Jahren für eine nachhaltige Zukunft einsetzen. Vermutlich werden unser Leben und unsere Wirtschaftsstruktur in 2039 deutlich anders aussehen als heute. Mobilität beispielsweise wird viel weniger von Pkws, viel mehr von Sharingmodellen und Gemeinschaftslösungen geprägt sein. Das wird auch unsere Straßen und Städte verändern und den Städtern mehr Lebensqualität bringen. Durch die Digitalisierung werden wir ganz neue Dienstleistungen bekommen, aber auch das Stadt-Landverhältnis wird sich ändern. Einige Wirtschaftssektoren werden verschwinden, neue Geschäftsmodelle und Arbeitsplätze entstehen. Ich hoffe, dass wir den Wandel ohne soziale Brüche und ohne Gefahr für unsere freiheitlich-demokratische Ordnung hinbekommen. Und wir sollten natürlich auch sehen, dass wir unseren Beitrag zu globalen nachhaltigen und gerechten Strukturen leisten. Wir stehen da in einer internationalen Verantwortung.