Arbeiten im Maschinenraum der Nachhaltigkeit

Die Bundesregierung entwickelt die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie weiter und holt sich dazu Expertise aus allen Ebenen der Gesellschaft. Eine erste Phase von Regionalkonferenzen ist jetzt vorbei. Wie es weitergeht und was mit den Ideen passiert.

In einem Arbeitsraum des Gustav Stresemann Instituts in Bonn sitzen Stadtplaner, Wissenschaftlerinnen, Vertreterinnen aus Ministerien, Nachhaltigkeitsexperten und andere Teilnehmende in einem Stuhlkreis zusammen und diskutieren Ideen. Darüber, was das Nachhaltigkeitsziel (SDG) Nummer 11 der Vereinten Nationen für Deutschland bedeutet: Städte und Siedlungen inklusiv, sicher, widerstandsfähig und nachhaltig machen. Was muss sich an der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie (DNS) ändern, um das umzusetzen?

Die Teilnehmenden kennen sich nicht, es gibt eine Vorstellungsrunde. Genau darin liegt der Charme der Veranstaltung: die Bundesregierung will unterschiedliche Akteure zusammenbringen. Das Bundeskanzleramt organisiert gerade einen Prozess, der sich etwas technisch “Fortschreibung der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie 2020” nennt. Auf der Konferenz in Bonn diskutieren Forschende, Politikerinnen und Politiker, Verwaltungen, Kommunen, Ingenieurinnen und Ingenieure, Finanzwelt, NGOs und andere Interessierte – erst in einem großen Plenum, später in kleineren Arbeitsgruppen zu einzelnen Zielen. Vier Regionalkonferenzen dazu waren geplant, eine, in Erfurt, wurde am Tag nach der umstrittenen Wahl von Thomas Kemmerich (FDP) zum thüringischen Ministerpräsidenten kurzfristig abgesagt und soll nachgeholt werden.

Im Arbeitskreis über nachhaltige Stadtentwicklung wird an zwei Themen offensichtlich, wie komplex das Thema Nachhaltigkeit ist. Heute sieht die DNS in Ziel 11.3 – insgesamt sind es 65 – vor, bezahlbaren Wohnraum zu schaffen. Konkret soll der Anteil der finanziell überlasteten Personen an der Bevölkerung bis 2030 auf 13 Prozent sinken. Das heißt üblicherweise Wohnungsbau und Verdichtung in Städten.

Konflikt um Flächen

Gleichzeitig aber müssen Kommunen die Biodiversität schützen, was durchgehende Grünflächen erfordert. Die sind außerdem wichtig, damit Städte den steigenden Temperaturen aufgrund des Klimawandels besser trotzen können. Mehr Grünflächen und gleichzeitig mehr Flächen zum Wohnen, das widerspricht sich oft. Im Workshop wird kurz diskutiert, ob die sogenannte doppelte Verdichtung helfen könnte, also etwa Dächer zu begrünen und so Flächen zum Wohnen und für die Natur zu nutzen. Ein Teilnehmer schlägt vor, in der DNS einen Grünflächenanspruch in Quadratmetern pro Person aufzunehmen. Auch, damit „Kinder wieder richtig rumtoben können”, wie er sagt. Bisher enthält die DNS lediglich eine „Verringerung des einwohnerbezogenen Freiflächenverlustes”. Der Vorschlag wird von Mitarbeitenden der Bundesregierung zusammen mit anderen Ideen protokolliert. Für diejenigen, die nicht auf einer der Konferenzen waren: Derzeit können Vorschläge, wie die DNS verbessert werden kann, auch noch per Mail eingereicht werden. Voraussichtlich im Juni startet dann ein Online-Beteiligungsverfahren zur Kommentierung des Entwurfs.

Ob die Vorschläge umgesetzt werden ist natürlich völlig offen. Aber dass die DNS sich dynamisch gesellschaftlichen Gegebenheiten anpasst, das zeigt ihre Geschichte. Seit 2002 gibt es die Agenda, damals hieß sie noch “Nationale Nachhaltigkeitsstrategie”. Sie ist in enger Zusammenarbeit mit dem Rat für Nachhaltige Entwicklung entstanden. . Zuletzt ist die DNS 2016 grundlegend überarbeitet worden, seitdem umfasst sie 17 Ziele, angepasst an die Agenda 2030 der Vereinten Nationen, die 2015 beschlossen wurde. Der Zeitplan sieht vor, dass verschiedene Bundesministerien unter Beteiligung des Statistischen Bundesamtes jeweils einen Teil der DNS überarbeiten. Ein erster Entwurf soll am 15. Juni auf der Jahreskonferenz des Rates für Nachhaltige Entwicklung in Berlin vorgestellt werden. Danach kommt es zu einer zweiten Dialogphase, Ende des Jahres soll die Neufassung dann stehen. Dass diese erforderlich ist, schrieb der Rat für Nachhaltige Entwicklung bereits im Juni 2019 in einer Stellungnahme: „Es steht zu befürchten, dass wichtige Ziele nicht erreicht werden, wenn die Bundesregierung hier nicht konsequent nachsteuert.” Die Konsequenzen müssten einschneidend sein, nur geringfügige Modifikationen an der DNS seien nicht hinnehmbar.

Fokus auf off-track Ziele

Der RNE organisiert im Auftrag der Bundesregierung regelmäßig Überprüfungen der deutschen Nachhaltigkeitspolitik durch hochrangige internationale Expertinnen und Experten. Ein solches Peer Review gab es zuletzt 2018 unter der Leitung der ehemaligen neuseeländischen Premierministerin Helen Clark. Die Ergebnisse sind auch relevant, wenn jetzt die DNS überarbeitet wird, beispielsweise bei den Zielen, die „off-track“ sind. Also Punkte in der DNS, in der Deutschland sich nicht nur nicht verbessert, sondern sogar schlechter wird. Dazu zählt nach dem jüngsten Indikatorenbericht des Statistischen Bundesamtes etwa die Adipositasquote von Erwachsenen, der Nitratgehalt im Grundwasser oder beim Verkehr – der Endenergieverbrauch im Personenverkehr nahm zuletzt entgegen der Zielsetzung leicht zu.

Viele der vom RNE angestoßenen Themen sorgen auch auf den Regionalkonferenzen für Debatten. Eines davon ist die Kohärenz der Politik von Bund, Länder und Gemeinden. In der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie etwa gibt es das Ziel, den Flächenverbrauch zu reduzieren, in der bisherigen Strategie von Nordrhein-Westfalen wird das heruntergebrochen auf das Land. Sie wird aber gerade überarbeitet und es bleibt abzuwarten, ob die neue Zielsetzung mit der DNS kompatibel sein wird. Einzelne Kommunen in NRW haben sich bereits eigene Ziele gesetzt, um weniger Naturraum zu versiegeln. „Wir brauchen eine stärkere Einbindung der Städte und Kommunen in die nationale Politikgestaltung”, forderte auf der Konferenz der Bonner Oberbürgermeister Ashok-Alexander Sridharan.

Ursula Heinen-Esser, Ministerin für Umwelt, Landwirtschaft, Natur- und Verbraucherschutz in Nordrhein-Westfalen, schlug in einer Podiumsdiskussion vor, die „Ökosystemdienstleistungen“ von Wäldern stärker zu berücksichtigen. Denn die brauche es dringend als CO2-Speicher, sonst könne Deutschland nicht klimaneutral werden. Ingrid-Gabriela Hoven, Abteilungsleiterin im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, kündigte an: Ihr Haus werde sich dafür einsetzen, etwa bei Ernährung und Konsum in Deutschland die globalen Zusammenhänge in der DNS stärker zu berücksichtigen. „Möchte man bei uns ein Produkt konsumieren, das Kinderarbeit enthält?“, fragte sie. Auch der globale Süden müsse besser begleitet werden, um sich nachhaltig zu transformieren. Weltweit würden 150 Millionen Kinder ausgebeutet.

Eschweiler und der Kohleausstieg

In Bonn zeigten sich die verschiedenen Ebenen der Nachhaltigkeitsdebatte. Manchmal sind die Vorschläge detailliert: Einzelne Teilnehmende forderten etwa einen ambitionierteren Zielwert für den Stickstoffüberschuss in der Landwirtschaft. Und manchmal führt Nachhaltigkeit zu Konflikten: Rudi Bertram ist Bürgermeister von Eschweiler, in seiner Kommune gibt es noch ein Kohlekraftwerk und einen Tagebau. Er berichtete, wie er mit den Menschen spricht, deren Arbeitsplätze wegen des Kohleausstiegs wegfallen: „Ich sag dann immer: Leute, das ist der gesellschaftliche und politische Wille. Wir müssen das gestalten statt es einfach gestalten zu lassen.“

Andere Überlegungen in Bonn sind eher appellativ: “Nachhaltigkeit muss in allen Bereichen des Lebens zum beherrschenden Thema werden“, sagt Heinen-Esser. Der Unternehmer Hans-Dietrich Reckhaus fordert einen Bewusstseinswandel. Er sagt, Wirtschaft, Kommerz und Karriere würden die Gesellschaft treiben, die Natur brauche einen ganz neuen Stellenwert. Nachhaltigkeit sei im Bewusstsein der Menschen angekommen, es hapere aber an der Umsetzung, so der Tenor vieler Diskutierenden. „Man muss Nachhaltigkeit wirklich machen wollen, sonst reden wir noch lange drumherum“, sagte Bürgermeister Bertram. Eine Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie ohne Menschen, die sie umsetzen, ist eben nur Papier.