Was hält unsere Gesellschaft in der Transformation zusammen?

Wie nimmt man die Leute mit in den Wandel, wie stärkt man die Gemeinschaft? Dieser Frage widmete sich der Nachhaltigkeitsrat in einem Forum auf der RNE-Jahreskonferenz 2023.

“Wir befinden uns mitten in einer Transformation, die unser Leben enorm verändern wird, die uns eine Menge abverlangen wird und die viele Menschen verunsichert” – mit diesen Worten eröffnet Reiner Hoffmann, Ratsvorsitzender, die Jahreskonferenz des Rates für Nachhaltige Entwicklung (RNE), am 10. Oktober in Berlin. Hoffmanns Eröffnungsrede kündigt auch schon das Themenforum am Nachmittag an. Darin geht es um die Frage, wie in Zeiten der Transformation gesellschaftlicher Zusammenhalt gelingen kann. Ein Thema, mit dem sich der Rat in der aktuellen Ratsperiode auch als Schwerpunktthema intensiv beschäftigt (siehe Arbeitsprogramm).

Was der Rat mit dem Begriff Zusammenhalt in diesem Kontext meint, das dröselt Reiner Hoffmann gleich zu Beginn des Forums auf: In Deutschland ginge es etwa darum, ob auch Kinder und Enkelkinder noch gute Berufsperspektiven haben werden. Oder, ob man immer stärker zu einer Arbeitsgesellschaft wird, in der der Niedriglohnsektor zu groß ist und immer weiter anwächst. “Zwanzig Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland fallen unter den Mindestlohn. Das war sicherlich ein politischer Erfolg, dass der Mindestlohn durchgesetzt wurde. Aber zufrieden können wir damit, glaube ich, nicht sein”, stellt Hoffmann fest.

Gute Arbeitsbedingungen

Da wo Menschen ordentliche Tarifverträge haben, würden sie nicht nur besser bezahlt, sie hätten auch deutlich bessere Arbeitsbedingungen und Arbeitszeiten. Auch der Arbeits- und Gesundheitsschutz sei in solchen Unternehmen deutlich größer. Gute Arbeitsbedingungen würden den nötigen Zusammenhalt schaffen, sagt Hoffmann, darüber hinaus ginge es aber auch um regionale und kommunale Bezüge: “Haben wir, da wo wir leben, ordentliche Schulen, haben wir ein ÖPNV-System, das bezahlbar ist? Ist der Wohnraum bezahlbar? Was passiert mit den Energiepreisen? All das sind Risiken, die das Gegenteil von Zusammenhalt – also Spaltung – mitverursachen können.”

Auf dem Podium sitzen – neben Reiner Hoffmann und Moderatorin Tanja Busse – auch Claudia Bogedan, Geschäftsführerin der Hans-Böckler-Stiftung; Felix Berning, Zimmerermeister und Vorstandsmitglied des Bezirksverbandes IG BAU Münster-Rheine, Vertreter des Deutschen Bundesjugendrings und Franka Bernreiter, UN-Jugenddelegierte für Nachhaltige Entwicklung. Tanja Busse lädt aber auch das Publikum ein, mitzudiskutieren. Mit Hilfe der App Slido kann während Veranstaltung jeder und jede im Publikum – anonym oder mit Namen – Fragen zum Thema Zusammenhalt stellen. Und die eineinhalb Stunden zeigen: das Publikum beschäftigt vieles, doch vor allem der herrschende Rechtspopulismus in Deutschland, die Verteilungsungerechtigkeit, die fehlende Solidarität und, dass zu viel geredet und zu wenig gemacht werde. Was sich das Publikum hingegen zum Beispiel wünschen würde: Umverteilung, positive Narrative, Solidarität und Bildung.

Gute Bildungschancen

“Bildung ist ein wichtiges Thema”, sagt Felix Bering zu den Anregungen aus dem Publikum. “Vor allem sehe ich da die Gewerkschaften als ganz wichtige Akteure. Wir fördern die Demokratiebildung, wir sorgen dafür, dass Leute sich einbringen, motiviert werden und mitbestimmen können.” Aber nicht nur Gewerkschaften, sondern auch Verbände und Vereine seien für die Demokratiebildung essenziell, sagt er. Franka Bernreiter ergänzt dazu, dass Deutschland ein Land sei, das im Bereich Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit nicht gut abschneide. Das sei keine natürliche Gegebenheit und das müsse sich ändern, denn “das bedingt auch das weitere Auseinanderdriften der Gesellschaft im politischen Sinne. Es bedingt auch bestimmte Wahlergebnisse, die wir jetzt gerade sehen,” sagt sie.

“Aber wie kann man Menschen mitnehmen?”, stellt Tanja Busse noch einmal die zentrale Frage. Reiner Hoffmann antwortet, dass man den Menschen zeigen müsse, dass sich ihr Engagement lohnt, dass es praktische Wirkungen hat. “Wir haben etwa Initiativen vor Ort gehabt, da hat sich die Umweltbewegung mit Gewerkschaften, der Stadt und dem Anbieter zusammengetan, weil die Taktzeiten vom ÖPNV für die Menschen so nicht funktioniert haben.” Das habe ein paar Monate gedauert, aber es habe sich dann geändert und das sei ein Erfolgserlebnis für die Beteiligten gewesen. Franka Bernreiter fügt hinzu, dass man Menschen aber auch in eine Situation versetzen müsse, in der sie sich Engagement und Ehrenamt leisten können, was für viele oft nicht möglich sei, selbst wenn sie gewillt seien.

Gutes Wachstum und Menschlichkeit

Das Thema Wohlstand und Verteilung ist ebenfalls ein zentrales Thema auf diesem Forum. Claudia Bogedan erklärt, dass sich das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung der Hans Böckler Stiftung schon lange für eine andere Messung von Wohlstand und Wachstum einsetze. “Man muss andere Wohlstandsindikatoren heranziehen. Im Moment steigen das Wirtschaftswachstum und der vermeintliche Wohlstand auch dann, wenn die Umwelt zerstört und danach wieder aufgebaut wird.” Das habe man auch in NRW nach der Flutkatastrophe gesehen. Denn danach habe es einen sprunghaften Anstieg des Bruttoinlandsproduktes gegeben. “Aber natürlich – da sind wir uns, glaube ich, alle einig – hatte das überhaupt nichts mit einer Wohlstandssteigerung zu tun, das Wohlergehen ist im Gegenteil ja eher gesunken.”

Ein weiteres Thema, das Frau Bogedan mit einer Anregung aus dem Publikum noch einbringt, ist das Thema Geflüchtete auf dem deutschen Arbeitsmarkt. “Es hat 2015 relativ gut funktioniert. Ich könnte aus dem Stegreif sehr viele positive Beispiele schildern von jungen Menschen, die 2015 hier angekommen sind, die super aufgestellt und super integriert sind, die ihren Weg gemacht haben auf dem Arbeitsmarkt.” Aber man müsse diesen Menschen dabei auch die Türen öffnen. “In Hinblick auf die Anerkennung von Qualifikationen müssen wir uns echt anders aufstellen in Deutschland”, sagt Bogedan. Und Hoffmann ergänzt, man müsse insgesamt der AfD gegenüber und auch Politikern anderer Parteien, die sich diesen Positionen anschließen, “noch viel deutlicher Kante zeigen. Weil das ist ein so menschenverachtendes Bild. Das muss man entlarven.”

Nach eineinhalb Stunden kommt das Forum zu einem Ende und Reiner Hoffmann kann daraus viele Anregungen mitnehmen – für das spätere Zusammentreffen mit Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), aber auch für die Ratsarbeit. Denn es sei nicht nur Selbstwirksamkeit, sagt er, nicht nur das eigene Engagement. Es ist auch die Politik, die man nicht aus der Verantwortung lassen könne, wenn es darum geht, Nachhaltigkeit so zu unterstützen und Rahmenbedingungen zu setzen, dass für die Menschen in Deutschland nachweisbare Verbesserungen entstehen. Genau hier möchte der Rat möchte die Bundesregierung in ihrem Handeln unterstützen und insbesondere bei Interessens- und Zielkonflikten lösend zur Seite stehen.