EU-Ratspräsidentschaft: Das halbe Jahr der ganzen Entscheidung

Deutschland übernimmt in Kürze die EU-Ratspräsidentschaft. Selten standen so viele Themen der Nachhaltigkeit auf der Tagesordnung, plus der Chance, Milliardenausgaben für den Corona-Wiederaufbau transformativ zu nutzen. Eine Übersicht über die wichtigsten Entscheidungen, die anstehen und die verschoben sind.

Next Generation EU und der Rahmen

Klar, Corona. Die Krise überschattet das halbe Jahr der deutschen EU-Präsidentschaft, die am 1. Juli beginnt. In der Zeit gehe es darum, „Kompromisse und Lösungen zu finden, um gemeinsam und zukunftsgerichtet gerade die Herausforderungen durch die Corona-Pandemie zu bewältigen”, wie es Regierungssprecher Steffen Seibert auf einer Pressekonferenz ausdrückte. Aber es gibt noch eine zweite Krise. „Eine ungebremste Klimakrise ist langfristig viel gravierender als Corona“, sagt Gunda Röstel, Geschäftsführerin der Stadtentwässerung Dresden, ehemalige Grünen-Vorsitzende und Mitglied im Rat für Nachhaltige Entwicklung. Die Pandemie sei schlimm, aber sie zwinge eine oft vielstimmige Europäische Union zusammen: „Wenn die EU wirklich muss, dann ist sie handlungsfähig.“

Die EU-Kommission will beide Themen verknüpfen, Corona und Klima. Die Kommission schlägt das 750-Milliarden-Euro Wiederaufbauprogramm „Next Generation EU“ vor, die Ausgaben sollen in die ökologische Transformation der Wirtschaft fließen – in Ladesäulen, Gebäudesanierung, Wasserstoffwirtschaft. Weil das alles durch Kredite finanziert und bis ins Jahr 2058 zurückgezahlt werden muss, warnt Röstel davor, das Geld in „einseitige konsumtive Strohfeuer“ zu stecken. „Was wir heute in Europa ausgeben und nicht refinanzieren, das muss die nächste Generation abbezahlen. Die Investitionen müssen Umwelt und Klima zugutekommen, sonst belasten wir unsere Kinder damit doppelt“, sagt Röstel. Die deutsche Ratspräsidentschaft wird deshalb so wichtig, weil auch ohne Corona gerade mehrere grundlegende Entscheidungen anstehen, wie der Rat für Nachhaltige Entwicklung in einer Stellungnahme schreibt.

Neue Klimaziele

Im März hat die EU-Kommission als zentrales Stück ihres Green Deal einen Vorschlag für eine neue Klimaverordnung vorgelegt. Die sieht vor, dass die EU bis 2050 netto klimaneutral ist. Also durchaus noch Klimagase emittieren darf, die dann aber an anderer Stelle wieder gebunden werden. Der große Kritikpunkt an dem Entwurf der Kommission: Er enthält bisher keine Zwischenziele für 2030 oder 2040. Allerdings sprach sich die Kommission im Rahmen des Green Deal bereits deutlich für Minderungen von mindestens 50 und bis zu 55 Prozent bis 2030 im Vergleich zu 1990 aus. Im September will Brüssel eine Analyse dazu vorlegen, dann wird sich auch Deutschland dazu verhalten müssen. Bundeskanzlerin Angela Merkel „begrüßte“ das Ziel von bis zu minus 55 Prozent bereits in einer Rede während des Petersberger Klimadialogs im April.

Kreislaufwirtschaft

Ebenfalls im Rahmen des von Ursula von der Leyen ausgerufenen Green Deals hat die Kommission im März ein Paket für den Weg hin zu einer Kreislaufwirtschaft vorgestellt. Es geht um ein Recht auf Reparatur, um das Recycling von Batterien, Einwegverpackungen sollen durch Mehrweg ersetzt werden, Textilien vermehrt eingesammelt und aufgearbeitet werden oder länger halten, ebenso Elektrogeräte. Die Kritik hieran bisher: Es fehlen konkrete Zielvorgaben, wie sehr der Ressourcenverbrauch der EU sinken soll. Der RNE fordert ein solches Ziel im Rahmen der Überarbeitung der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie hierzulande einzuführen, also ein absolutes Verbrauchsziel für Rohstoffe. In den nächsten drei Jahren werden zahlreiche Details zur Kreislaufwirtschaft verhandelt, einige davon während der deutschen Ratspräsidentschaft. Etwa, wie das Ziel einer Kreislaufwirtschaft in Freihandelsverträgen implementiert werden kann.

Industriestrategie und Energie

Noch hat die Bundesregierung auf ihrer Webseite zur Ratspräsidentschaft wenig über ihr Arbeitsprogramm stehen. Im November soll es aber laut Bundeswirtschaftsministerium (BMWi) eine Industriekonferenz in Berlin geben – das BMWi will „Wettbewerbsfähigkeit, Wohlstand und Wirtschaftswachstum innerhalb der Europäischen Union“ erhöhen. Die EU-Kommission hat ihre Industriestrategie ebenfalls im März im Rahmen des Green Deal vorgestellt. Ein Schwerpunkt ist die Dekarbonisierung der energieintensiven Industrie und der Aufbau einer Wasserstoffwirtschaft.

Das Gas soll mithilfe erneuerbarer Energien erzeugt werden und etwa Stahlproduktion oder Schwerlastverkehr klimafreundlich machen. Das Thema will die Kommission nun zusätzlich aus den Milliarden des Corona-Wiederaufbauprogramms fördern – auch die Bundesregierung sieht in dem Energieträger ein „Kernelement der Energiewende“. Und auch der RNE schreibt: „Wir setzen auf die schnelle Einführung von sozialen und technologischen Innovationen im Sinne der Nachhaltigkeit, z. B. in Digitalisierung (Bildung und Gesundheit), Energie (Sonne, Wind und Wasserstoff) und Infrastruktur (Energie- und Datennetze).“

Laut eines Entwurfs des deutschen Arbeitsprogramms für die EU-Ratspräsidentschaft von Mitte April, aus dem Euractiv zitiert, will Deutschland Wasserstoff-Partnerschaften für Energieimporte zu einem Thema seiner Amtszeit machen. Im Oktober plant die Bundesregierung eine Konferenz zur europäischen Energiepolitik. Der Entwurf einer europäischen Offshore-Wind-Strategie der EU soll wie geplant Ende 2020 stehen.

Mehrjähriger Finanzrahmen

Am 27. Mai hat Brüssel den überarbeiteten Vorschlag für den regulären mehrjährigen Finanzrahmen der Union präsentiert, der nach Willen der EU-Kommission von 2021 bis 2027 1.100 Billionen Euro betragen soll. Die Mittel für das kreditfinanzierte „Next Generation EU“-Paket sind darin nicht enthalten. Laut Kommission fließen weiterhin, wie bereits 2018 im ursprünglichen Entwurf versprochen, ein Viertel des Budgets in Klimainvestitionen.

Zwar schreibt die Kommission, „öffentliche Investitionen in den Wiederaufbau sollten den grünen Eid ‘do no harm’ berücksichtigen“, also Umwelt und Klima nicht schädigen – allerdings merken Umweltverbände an, dass sich der Satz wohl nur auf die 750 Milliarden aus dem angedachten Corona-Aufbauprogramm beziehen, nicht aber auf die 1.100 Milliarden aus dem regulären EU-Budget. Noch sind beide Budgets ohnehin nur Vorschläge der Kommission. Sämtliche Verhandlungen dazu finden während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft statt und sollen im Dezember abgeschlossen sein.

Verzögerungen bei einigen Vorhaben der Kommission

Zahlreiche Vorhaben der EU-Kommission mit Bezug auf Nachhaltigkeit verzögern sich wegen der Pandemie ins nächste Jahr und damit auf die Zeit nach der deutschen EU-Ratspräsidentschaft. Welche, das geht aus dem angepassten Arbeitsprogramm der Kommission vom 27. Mai hervor. Verschoben aus dem Themengebiet Green Deal sind demnach:

  • Die neue Strategie für ein nachhaltiges Finanzwesen verzögert sich um ein halbes Jahr auf das erste Quartal 2021.
  • Die Strategie zur Anpassung an den Klimawandel und die neue Forststrategie verzögern sich um ein Quartal auf das erste 2021.
  • Eine Initiative zur Stärkung der Verbraucherinnen und Verbraucher für den grünen Wandel kommt erst im zweiten Quartal 2021, nicht bereits Ende 2020.
  • Das 8. Umweltaktionsprogramm kommt ebenfalls ein halbes Jahr später im zweiten Quartal 2021.

Landwirtschaft

Wie geht die Bundesregierung mit der neuen EU-Strategie „Vom Hof auf die Gabel“ (Farm-to-fork) für eine nachhaltigere Landwirtschaft und mehr Biodiversität während seiner Ratspräsidentschaft um? Dazu mehr in Kürze in einem gesonderten Beitrag.