Leben 4.0 fordert Gesellschaft und Politik heraus

Ist die Digitalisierung ein Weg zu mehr Nachhaltigkeit? Ja, sagen Experten. Doch für die neuen technischen Möglichkeiten braucht es Vertrauen. Die Veränderungen in Arbeit und Alltag machen vielen Menschen Angst.

International treibt kaum ein Thema Wirtschaft und Politik so sehr um wie die Digitalisierung. Katherina Reiche, Mitglied des Rates für Nachhaltige Entwicklung (RNE), und Hauptgeschäftsführerin beim Verband kommunaler Unternehmen (VkU), spricht von den technischen Möglichkeiten als einem „game changer“, der unser Leben nahezu komplett verändert.

Mobilität, Kommunikation, Arbeitsprozesse, Lernen – die Digitalisierung dringt in alle Bereiche ein. Auch der RNE hat die Digitalisierung in sein Arbeitsprogramm aufgenommen. „Nachhaltiger Konsum war nie einfacher, aber vermutlich auch nie schwieriger“, sagte Reiche bei einem Workshop zum Thema „Deutschland digital(er) denken?“ bei der RNE-Jahreskonferenz. Es geht um die Entstehung von Zukunftsindustrien, um Anreize, allen Menschen mehr Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen. Digitalisierung sei die Voraussetzung für die Vernetzung komplexer Wertschöpfungsketten, betonte Reiche.

Arbeit und Leben 4.0 auf politischer Agenda

Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hob in ihrer Rede auf der Jahreskonferenz die Bedeutung der Digitalisierung hervor. Die technischen Möglichkeiten würden dazu beitragen, effizienter zu wirtschaften und Ressourcen einzusparen, sagte Merkel. Deutschland hat die Digitalisierung als Chance für die Umsetzung der UN-Nachhaltigkeitsziele und zur Förderung von Entwicklungsländern auf die Agenda der G20-Staaten gesetzt. Anfang Juli findet der G20-Gipfel in Hamburg statt. Deutschland hat derzeit den Vorsitz der 20 wichtigsten Industrie- und Schwellenländer inne.

Mit den Veränderungen kommen auch Unsicherheiten und Ängste auf. Arbeitsprozesse werden schlanker gestaltet, Berufe verändern sich. Die Mitarbeiter in Unternehmen müssen sich auf neue Aufgaben einstellen. Max Neufeind vom Bundesarbeitsministerium stellte bei der RNE-Jahreskonferenz die Frage nach einem neuen erweiterten Arbeitsbegriff in den Raum, der die vielen Facetten von Arbeit umfasst. Zudem müsse das lebenslange Lernen stärker Gewicht bekommen. „Damit müssen wir Ernst machen“, sagte Neufeind.

Die Bedeutung von lebenslangem Lernen betonte auch Philippe Lorenz von der Stiftung Neue Verantwortung.  Die sich verändernde Arbeitswelt erfordere neue und andere Kompetenzen von Mitarbeitern. „Unternehmen sollten die Fähigkeitsprofile ihrer Mitarbeiter besser nachvollziehen und darauf aufbauend individuelle Weiterbildungsangebote ableiten und anbieten“, so Lorenz.

Ähnlich argumentierte Tino Langer vom Fraunhofer Institut für Werkzeugmaschinen und Umformtechnik. Die Digitalisierung habe enormen Einfluss auf die berufliche Ausbildung. „Wir müssen in der Lage sein, die Komplexität zu beherrschen“, sagte Langer. Zugleich biete die Technologie ein hohes Maß an Flexibilität. Die Mitarbeiter könnten viel selbstbestimmter entscheiden.

Mehr oder weniger Kontrolle im Netz?

Die Debatte in Deutschland ist besonders von der Angst über den Schutz der Daten bestimmt. Wer hat Zugang zu privaten Informationen? Sind die Daten vor Hacker-Angriffen geschützt? Das Vertrauen der Verbraucher in den Datenschutz schwinde, sagte Florian Glatzner vom Verbraucherzentrale Bundesverband (VZBV). Bei der Frage um mehr oder weniger Kontrolle im Netz gebe es Handlungsbedarf – auch von politischer Seite. Zum Beispiel, wenn es um Einschränkungen für Unternehmen geht, die Datenströme nutzen.

Für Benjamin Bergemann vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung geht der Datenschutz in der Nachhaltigkeit auf. „Beide wollen Diversität erhalten“, sagte Bergemann beim RNE-Workshop. Freiheit und Selbstbestimmung müsste man allen gewähren. Auch den jungen Generationen, die „verdatet“ aufwächst.

Doch die Datenfülle birgt nicht nur Risiken, sondern vor allem Chancen. Davon ist Henning Banthien, Geschäftsführender Gesellschafter der IFOK GmbH, überzeugt. Lägen mehr Informationen vor, müssten sich Unternehmen beim Thema Nachhaltigkeit auch transparenter in ihren Geschäftsberichten rechtfertigen.

Wie sehr digitale Technologien Unternehmen verändern, betonte Heike Niedbal von der Deutschen Bahn AG. „Digitale Transportangebote sind nicht automatisch nachhaltig“, sagte Niedbal. Sie plädierte für eine gesellschaftliche Debatte über die Gestaltung von Mobilität und Logistik in der digitalen Ära. Damit eine CO2-freie Logistik vorangetrieben wird, muss, Niedbal zufolge, die Politik reagieren. Beispielsweise über finanzielle Anreize.

Auch Thomas Osburg von der Hochschule Fresenius sieht die Politik bei diesen Transformationsprozessen, bedingt durch die Digitalisierung, in der Pflicht. Er sprach von der Entwicklung neuer Konzepte für mehr soziale Nachhaltigkeit. Eine Herausforderung wird, die ältere Generation an die „neue Welt“ heranzuführen. Auf diesen Aspekt machte Timo Poppe von der swb AG aufmerksam. Das Unternehmen steht im Land Bremen für die Versorgung mit Energie, Trinkwasser und Telekommunikation.

Die Digitalisierung ist der Treiber für wirtschaftliche Innovationen in den kommenden Jahren, aber auch für mehr Nachhaltigkeit, wenn die Dynamik der Entwicklungen richtig genutzt wird. Es liegt an der Politik, der Wirtschaft, der Gesellschaft sie zu gestalten, Vorteile und Risiken abzuwägen, und die Grenzen der Digitalisierung aufzuzeigen.

Der Prozess wird dauern und fordert alle heraus, so die Experten. Ohne das Vertrauen der Menschen in die neue Technologie könnten die damit verbundenen Änderungen nicht umgesetzt werden. Das bedeutet auch allen gesellschaftlichen Gruppen durch die Digitalisierung Teilhabe zu ermöglichen. Beim Lernen, beim Arbeiten, bei Veränderungen im Alltag.