Kann Atomkraft „grün” sein?

Die EU streitet darüber, welche Methoden der Energieerzeugung als nachhaltig gelten sollen – und vertagt die Entscheidung auf den Herbst.

„Viele Menschen in Deutschland können die derzeitige Debatte nicht nachvollziehen ”, sagt Alexander Reitzenstein. Damit bezieht sich der wissenschaftliche Referent beim Rat für Nachhaltige Entwicklung (RNE) auf einen Streit auf EU-Ebene darüber, ob und unter welchen Umständen Atomenergie und Erdgas als nachhaltig gelten könnten. Grob gesagt verlaufen die Gräben der Debatte folgendermaßen: Während Deutschland, Österreich und Luxemburg die Atomkraft sehr kritisch sehen, betonen Vertreter*innen Frankreichs und Osteuropas, dass ihr Einsatz klimaschädliche Emissionen zu vermindern helfe. Beim Thema Erdgas setzen sich unter anderem Österreich, Spanien, Irland, Luxemburg und Dänemark für einen weitgehenden Ausschluss ein. Einige osteuropäische Staaten und auch Teile der Bundesregierung plädieren hingegen für eine stärkere Berücksichtigung von Erdgas in der Taxonomie.

Die Diskussion, ob Atom und Gas als klimafreundlich bewertet werden könnten, ist hochaktuell, weil die EU derzeit an einem Standard für nachhaltiges Investieren arbeitet, der sogenannten Taxonomie. Die Idee dahinter: Auf dem Weg zur bis 2050 angestrebten Klimaneutralität sind die Länder auf Investitionen von Unternehmen angewiesen. Denn die Energiewende kann nur gelingen, wenn auch das Finanzsystem sich ändert und Kapital in klimafreundliche statt ihn fossile Energieträger investiert. Der EU-Kriterienkatalog soll auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse helfen, die Finanzströme besser zu steuern, indem er festlegt, was als nachhaltig zu definieren ist – und was nicht. Bei entsprechender Umsetzung könnte die EU damit einen internationalen Standard für diese Definition etablieren.

Zwar wurde die Taxonomie bereits im Sommer 2020 veröffentlicht. Nur waren darin längst noch nicht alle Details festgelegt. Die werden jetzt Stück für Stück nachgearbeitet und geklärt. So ist auch die Antwort auf die Frage, welche Methoden der Energieerzeugung „grün” sind, schon mehrfach vertagt worden. Und genau das ist Ende April erneut geschehen. Nun soll die Entscheidung im Herbst fallen.

Wenig CO2, aber Unfallgefahr und ungeklärte Endlagerung

In den Wochen davor waren die Befürchtungen gestiegen, dass die EU bei Gaskraftwerken die Grenzwerte abschwächen könnte, ab denen diese als nachhaltiges Investment gelten, und der Atomkraft wegen ihres geringen CO2-Ausstoßes tatsächlich eine klimaschonende Wirkung zuschreiben könnte. Diesen Eindruck schien ein jüngst veröffentlichtes Papier zu bestätigen: Darin schreibt der Wissenschaftliche Dienst der EU-Kommission (JRC), dass Atomkraft, was die Emissionen betreffe, auf eine Ebene mit den Erneuerbaren Energien zu stellen sei.

Das war allerdings nicht alles, was dazu im Bericht stand: „Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler führen in dem Papier des JRC ebenfalls aus, dass sowohl die Gefahr von schwerwiegenden Unfällen als auch die Frage der Endlagerung des Atommülls negativ zu bewerten sind”, erläutert Kerstin Lopatta, die den Lehrstuhl für ‚Accounting, Auditing & Sustainability‘ an der Universität Hamburg innehat. Die Professorin für Betriebswirtschafslehre arbeitet derzeit an einem Gutachten, das den Deutschen Nachhaltigkeitskodex (DNK) mit der Taxonomie abgleicht. Dabei geht es darum zu bestimmen, wie DNK und Taxonomie vereinbar sind, „wobei man berücksichtigen muss, dass die Taxonomie in ihren technischen Kriterien sehr viel spezifischere Vorgaben hat als der DNK“, sagt die Professorin. Ziel ist neue Anforderungen an Unternehmen im DNK mitzudenken und Anschlussfähigkeit herzustellen – auch für solche Unternehmen, die nicht direkt von Berichts- bzw. Transparenzpflichten betroffen sein werden.

RNE-Referent Reitzenstein ergänzt: „In der Diskussion um die Energieerzeugung der Zukunft muss man zusätzlich zu den ambitionierten Klimazielen der EU auch die Wirtschaftlichkeit der verschiedenen Technologien im Auge behalten.” Das sei zwar kein Thema für die Taxonomie. Allerdings seien Erneuerbare Energien heute so viel kostengünstiger als etwa die Atomenergie, dass sich beispielsweise eine Investition in den Bau neuer Kraftwerke schlicht nicht mehr lohne. Wie unwirtschaftlich Atomkraft heute im Vergleich zu den „Renewables” ist, hat zum Beispiel 2019 eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) ergeben.