„Wir aus der Nachhaltigkeitsszene müssen eben aus unserer Ecke raus“

Günther Bachmann hat als Gründungs-Generalsekretär des Rates für Nachhaltige Entwicklung von 2001 bis 2020 das Thema Nachhaltigkeit auf allen Ebenen und in allen Bereichen der Politik vorangebracht. Die erzielten Veränderungen hätte er sich kaum träumen lassen – aber sie reichen seines Erachtens dennoch nicht aus. In einem Gespräch schildert er seine persönliche Sicht auf die Entwicklungen, Erfolge und Misserfolge dieser zwei Jahrzehnte.

Herr Bachmann, Sie haben den Rat für Nachhaltige Entwicklung (RNE) 19 Jahre lang stark geprägt. 20 Jahre gibt es den RNE jetzt. Sie waren bis März 2020 Generalsekretär und haben damit fast zwei Dekaden mitten im Maschinenraum des Berliner Politikbetriebs verbracht. Hat sich Deutschland tatsächlich in Richtung Nachhaltigkeit entwickelt? Und zwar in dem Sinne, dass es reicht, die globalen Krisen zu lösen, wie die Klimaerhitzung und das Artensterben?

Günther Bachmann: Ja und Nein. Natürlich hat sich etwas bewegt. Das ist ja auch nicht zu übersehen. Damals, als wir angefangen haben, haben knapp 13 Prozent der Menschen gewusst, dass es den Begriff Nachhaltigkeit überhaupt gibt. Wir sind von der Politik ausgelacht worden, dass wir mit diesem Karrierebrecher-Thema kamen. Heute reißen sich beispielsweise die Banken darum, Nachhaltigkeitsfonds zu verkaufen, und Discounter machen Reklame für besseres Tierwohl. Deutschland will bis 2045 klimaneutral sein. 80 Prozent der Menschen wissen heute, was Nachhaltigkeit ist.

Und das Nein?

Wir sind sehr, sehr weit davon entfernt, die Klimakrise und die Artenkrise zu lösen. Und jetzt mit den Rückschritten durch die Pandemie sind wir noch weiter davon entfernt, in Europa, weltweit.

Sie haben mal gesagt, dass Nachhaltigkeit ein Weg von sehr vielen kleinen Schritten von sehr vielen Menschen ist. War das die Leitidee Ihrer Arbeit der letzten 20 Jahre?

Ja, aber die Menschen, die diese Schritte tun, müssen sich selbst in einem großen Rahmen sehen und Teil einer Bewegung sein. Dann wird man stärker und selbstwirksam. Und den Rahmen, diese Bezugspunkte, die muss man herstellen. Sonst enden die kleinen Schritte im Nirgendwo.

Steckt in Nachhaltigkeitsrat auch „beraten“ drin?

Der RNE hat ein Beratungsmandat, unterscheidet sich aber von einem reinen wissenschaftlichen Beratungsgremium, einem „Professorenrat“. Der RNE hat nie ein Buch auf den Tisch gelegt und gesagt: Das sind die Lösungen. Der Rat hatte den Anspruch, auch selbst zu handeln, operativ tätig zu werden, nur so verändert man Dinge. Und deswegen hat der Rat von Anfang an eigene Projekte gemacht.

Nehmen wir mal ein paar Beispiele: Die Regionalen Netzstellen Nachhaltigkeitsstrategien (RENN), die in den Regionen alle vernetzen, die sich für Nachhaltigkeit stark machen. Oder die Deutschen Aktionstage Nachhaltigkeit, bei denen sichtbar wird, wie sich Menschen für das Thema engagieren: Das waren ja alles Sachen, die den Leuten gezeigt haben, dass es zusammen in eine Richtung geht.

Der Rat und seine Geschäftsstelle wollten etwas bewegen. Ein reines Beratungsgremium, selbst wenn es sehr gute Ideen hat, ist im politischen Betrieb eben ein Leichtgewicht. Man wird aber schwergewichtiger, je mehr Menschen draußen zuhören und dein Thema verstehen und selbst etwas tun. Deswegen haben wir das alles gemacht. Wir brauchten Resonanz außerhalb Berlins. Außerdem bin ich von Grund auf der Überzeugung, dass Menschen stärker werden, wenn man die richtigen Anforderungen an sie stellt.

Sind Nachhaltigkeitsdiskurse nicht trotzdem oft einfach „nerdig“?

Dieses „Nerdige“ wollten wir immer aufbrechen. Deswegen haben wir gleich auf der ersten Jahreskonferenz 2001 drei Musiker engagiert und gebeten, ein Lied für uns zu komponieren und es auf der Veranstaltung zu spielen. Aber mit der Vorgabe, es zu verändern, und zwar so, wie die Musiker die Diskurse in unseren Arbeitskreisen erlebt haben. Weil sie die Diskussionen so schrecklich fanden, haben sie das Stück total zerlegt und ganz schrill gespielt. Wir haben also versucht, uns mit den Mitteln der Kunst einen Spiegel vorzuhalten. Keine Ahnung, ob das alle verstanden haben. Aber niemand weiß heute mehr, was wir auf der ersten Jahreskonferenz zur Mobilität gesagt haben. Aber dass drei Musiker die gesamte Atmosphäre verändert haben, daran erinnern sich viele Teilnehmende.

Die vier Regionalen Netzstellen Nachhaltigkeitsstrategien, die RENN, die waren auch Ihre Idee. Mittlerweile schieben sie überall im Land Nachhaltigkeitsdiskurse und -aktivitäten an.

Die Idee hinter den RENN war es, die verlorenen Seelen der Nachhaltigkeitsbewegung wieder einzusammeln. Das waren diejenigen, die nach dem Erdgipfel von Rio 1992 versucht haben, Städte und Gemeinden nachhaltig zu machen. Allein in Deutschland hatten sich damals über 2.500 lokale Gruppen gebildet. Mit der Zeit sind die ziemlich untergegangen. Also haben wir Oberbürgermeisterinnen und Oberbürgermeister aus ganz Deutschland nach Berlin eingeladen und gesagt: Wir erfrischen, regenerieren diese Agenda-Bewegung, das Ganze nennen wir aber nicht mehr so. Nicht, dass jemand kommt und denkt, er muss jetzt die Asche wieder aufblasen. Wir nennen das regionale Netzstellen oder irgendwie anders und dabei ist eben das Wort RENN entstanden. Und weil wir ein föderaler Staat sind, habe ich den Ländern angeboten, dass sie sich einbringen können. Die Länder nannten uns bestehende Einrichtungen, die zivilgesellschaftlich und gemeinnützig sind, als regionale Partner. Mit denen haben wir als RNE-Geschäftsstelle dann die Netzstellen aufgebaut. Das hat auch dazu geführt, dass ganz neue Soziotope angesprochen worden sind, die bei der Lokalen Agenda nicht oder selten dabei waren. Beispielsweise der Sport, die maritime Wirtschaft, die Hotellerie.

Haben es die RENN also geschafft, aus dem Kreis der üblichen Nachhaltigkeitsszene auszubrechen?

Es fehlt noch eine Menge. Man müsste auch Land- und Forstwirte gewinnen, die Startup-Szene mehr einbinden. Aber die RENN haben insgesamt schon etwas geleistet. Im Norden haben sie viele Wirtschaftsvertreter mit an den Tisch bekommen. Vielerorts machen sie tolle außerschulische Bildungsarbeit. Insgesamt gibt’s in Deutschland viele Leute, die richtig was drehen können in Sachen Nachhaltigkeit. Gibt man denen ein bisschen Geld in die Hand und schon verdoppeln und verdreifachen sich die Möglichkeiten.

Sie haben auch den Open SDGclub.Berlin für internationale Nachhaltigkeitsakteure gegründet. Da kommen dann auch Vertreterinnen und Vertreter zusammen, die in autokratischen Ländern Nachhaltigkeitspolitik machen wollen.

Auf dem ersten Treffen hatten wir jemanden aus dem Iran dabei und aus Ägypten. Da stellte sich natürlich die Frage, welchen Handlungsspielraum die eigentlich haben. Aber ich habe den Open SDGclub.Berlin nicht als eine Veranstaltung von Ländern initiiert. Es kommt meines Erachtens auf die Person an und auf das, was ein Mensch in seinem Kontext bewegen kann. Und da ist mir eine guatemaltekische Frauenrechtlerin genauso wichtig wie jemand aus der Finanzbehörde in Benin oder im Sudan jemand, der eine Art Bundesrechnungshof vertritt. Ursprünglich dachte ich, wir können einfach mal alle Nachhaltigkeitsräte der Welt zusammenbringen, aber solche Einrichtungen gibt’s ja nicht überall. An dem Punkt setzt jetzt das Global Forum for National SDG Advisory Bodies an. Uns ging es primär um Menschen, ihre Kompetenzen und um Austausch, um gemeinsam stärker zu werden.

Vielleicht auch, um Mut zu fassen?

Ja, dazu habe ich mal einen Vortrag gehalten, über das SDG 18. Es gibt 17 SDGs, 17 globale Nachhaltigkeitsziele, alle technisch und gut überlegt, aber es fehlt das Achtzehnte: Hoffnung und Mut. Und das brauchen wir.

Kommen wir zu einem ganz dicken Brett, nämlich der Frage, wie man die Wirtschaft umkrempelt. Es ist eine der ganz großen Anliegen des Rates, über den Deutschen Nachhaltigkeitskodex, den DNK, Ökologie und Soziales mit einem bilanziellen Preisschild zu versehen oder irgendwann Unternehmen, die entsprechend gut handeln, einen Kostenvorteil in einem kapitalistischen System zu verschaffen. Wie weit ist das gediehen?

Wir sind noch am Anfang. Ich war übrigens, als wir damit angefangen haben, skeptisch. Wir haben der Bundesregierung unsere Idee vorgetragen und da hieß es: ‘Lasst die Finger davon, das schafft ihr nie.‘ Der regierungsamtliche Zweifel hat mich herausgefordert und ich dachte, das wollen wir mal sehen. Und dann bin ich mit meiner Kollegin Yvonne Zwick zigmal in Frankfurt gewesen, um mit der Finanzindustrie und ein paar Unternehmen zu reden. Erst langsam haben wir herausgefunden, wo denen der Schuh drückt. Wo ist denn der Hebel, den wir ansetzen können? Ihnen fehlte eine Vergleichbarkeit in der Berichterstattung. Also haben wir mit dem DNK einen Berichtsstandard entwickelt, auch weil der Global Reporting Standard, der GRI – viele international tätige Unternehmen werden ihn natürlich weiter benutzen – nicht so recht zur Struktur und zu den Bedürfnissen der deutschen Wirtschaft passt. Wir haben jetzt seit 10 Jahren den DNK und inzwischen auch einige andere Standards, die viele Unternehmen benutzen. Die innere Logik des Kapitalismus, das ewige Wachstum, haben wir damit bisher aber nicht angerührt. Aber es gibt in unserer Gesellschaft zumindest einen gewissen Grundkonsens darüber, dass es nicht genauso weitergehen kann wie bisher. Begriffe wie ‚stakeholder capitalism‘ oder ‚woke capitalism‘ drücken das aus.

Also Ansätze, bei denen Aktionäre oder Aktionärinnen versuchen, die Unternehmen von innen zu verändern.

Genau. Da sehe ich gute Ansätze. Man kann mit gutem Gewissen sagen, dass nicht alle Unternehmen auf Trickserei abstellen, wie die Automobilindustrie es lange tat. Es wird immer noch lange dauern, aber die Idee der Klimaneutralität ist in der in der Wirtschaft stark verankert. Nun müsste der Staat mehr Hilfen geben, um als Unternehmen klimaneutral zu werden. Ein nächster Schritt könnte aus meiner Sicht eine neue Treuhandanstalt sein, aber nicht eine, die Unternehmen und Immobilien verscherbeln würde.

Die kauft braune Unternehmen auf und versucht, das Grüne daran zu retten?

Nein, eine solche neue Treuhand würde Klimaleistungen weltweit aufkaufen, sie in einem staatlichen ‚Due Diligence-Check‘ auf Glaubwürdigkeit prüfen und dann an deutsche und europäische Unternehmen weiterverkaufen. Das alles mit guten Standards und Öko- und Sozialkriterien versehen. Heute ist jedes Unternehmen, das etwas für das Klima tun will, auf sich allein gestellt und kauft sich irgendwo ein paar Bäume, schlimmstenfalls Eukalyptus. Die Unsicherheit, wie genau der Weg zur Klimaneutralität aussieht, ist groß. Auch die Frage, wie Klimaneutralität bilanziell funktionieren soll, ist offen. Was dürfen Unternehmen woanders kompensieren, welche Vorleistungen müssen sie bringen, was müssen sie an realen, transformativen Veränderungen leisten? Es fehlt eine Marktordnung, die Klima und Umwelt ins Zentrum stellt. Das sehe ich auch als Zukunftsthema für den Deutschen Nachhaltigkeitskodex.

Eine große Debatte beim Nachhaltigkeitskodex war immer, wie eine CO2-Bilanz gleichberechtigt zum finanziellen Ergebnis in die Quartalsberichte kommt. Braucht es das noch oder ist das vielleicht überholt, weil wir CO2-Preise haben?

Das hat sich nicht überholt und mit einem CO2-Preis ist es nicht getan. Denken wir mal an Biodiversität: Es wird lange dauern, bis wir einen Preismechanismus haben, der Unternehmen die Kosten des Artensterbens auferlegt. Das gleiche gilt für Landdegradation oder die sozialen Fragen der Nachhaltigkeit. Ein Preismechanismus ist also nicht der Ersatz für ordentliche Berichte und für das Bewusstmachen innerhalb eines Unternehmens, was die eigenen Assets anrichten. Das Lieferkettengesetz ist ein klares Indiz, dass Nachhaltigkeitsberichterstattung noch lange nicht da ist, wo sie hin muss.

Bewusstmachen ist das richtige Stichwort zum Thema Kultur: Was kann Kultur dazu beitragen, die gesellschaftliche Transformation hinzubekommen?

Sie kann das Denken, unsere mentale Infrastruktur, unser Bauchgefühl verändern und uns Einsichten entwickeln lassen. Ein Beispiel: Kohle. Man kann lange über den Ausstieg aus der Kohle reden. Technisch, wirtschaftlich, sozial. Mit der in der Politik üblichen Rhetorik. Das ist gut, aber nicht gut genug. Was ich damit meine ist Folgendes: Bevor der Ausstieg beschlossen wurde, hatten wir auf einer Jahreskonferenz einen Programmpunkt, bei dem im großen Saal plötzlich das Licht ausging. Es war stockdunkel in einem Saal mit tausend Leuten. Und dann stand eine Frau auf und fing a cappella an, ein Lied über die Schließung eines Kohletagebaus in der DDR zu singen. Das Lied beschrieb das Positive, dass Erdbeben aufhören und es keine Betriebstoten mehr gibt. Aber auch das Negative, dass der Arbeitsplatz wegfällt, die eigene Identität. Nicht die Kohle ist systemrelevant, wie wir aussteigen ist systemrelevant. Das in einem Lied klarzumachen, ist ein eingängiger Weg: Da brauchen andere eine Stunde Redezeit für. Dieser andere Zugang zu den Menschen, ist das wichtige an der Kultur.

Der Fonds Nachhaltigkeitskultur hat viele Kulturprojekte gefördert. Was hat Sie beeindruckt?

In Bonn ist mal eine Kirche komplett mit Plastik verkleidet worden und die Pfarrerin trat in einem Plastikkleid auf und hat gepredigt. Das sind starke Bilder. In Frankfurt haben wir mal Fair-Trade-Schokolade unter den Leuten verteilt und dann ein Fest über Schokolade und die Arbeitsbedingungen beim Anbau veranstaltet. Die Autorin Susanne Brandt hat in der Landesbibliothek in Flensburg Kindern mit aufklappbaren Bildern Nachhaltigkeitsgeschichten erzählt, über die Pilze im Wald oder über das Wasser. Mich haben immer starke Bilder interessiert. Ich habe mir das Publikum auf unseren Jahreskonferenzen immer sehr genau angeschaut: Viele schauten aufs Handy, wenn vorn jemand einen Vortrag hielt. Aber bei den kulturellen oder künstlerischen Beiträgen waren sie nicht abgelenkt. Da waren sie entweder entsetzt oder beeindruckt. Nachhaltigkeit mit Emotionen zu verbinden, das ist die große Kunst. Wissenschaft und Belehrungen können wir alle, das haben wir gelernt. Deswegen war ich von der ersten Stunde an dabei, als wir den Deutschen Nachhaltigkeitspreis aus der Taufe gehoben haben.

Ein Preis, der heute als Oscar der Nachhaltigkeit gilt und während eines großen Festaktes verliehen wird. Hat da nicht mal Bob Dylan gespielt?

Nein, der war es nicht. Aber beispielsweise weltbekannte Künstlerinnen und Künstler wie Abdullah Ibrahim, früher bekannt als Cat Stevens, Art Garfunkel oder Annie Lennox. Wir aus der Nachhaltigkeitsszene müssen eben aus unserer Ecke raus, wir sind zu sehr mit uns selbst beschäftigt. Und dazu braucht man die Emotionalisierung des Themas.

Wie emotional ist denn die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie?

Null.

Die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie hat eigentlich die Idee, dass Nachhaltigkeit zum Zentrum der Politik wird. Hat das in den letzten 20 Jahren funktioniert?

Die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie ist immer mehr zum Mainstream-Instrument geworden. Aber sie ist noch lange nicht da, wo sie hin sollte. Und das wissen auch alle Beteiligten. Wir haben ja als Rat, das war 2001, die erste Blaupause für die Nachhaltigkeitsstrategie geschrieben. Der damalige Kanzler Gerhard Schröder sagte: Mach mal nicht so viele Indikatoren, ich muss die Übersicht behalten. Damals waren es 21, heute sind es 75.

Was heißt das?

Dass mittlerweile alle Ministerien mitmachen wollen. Die werfen mit ihren Indikatoren um sich, nur damit sie auch in der Nachhaltigkeitsstrategie drinstehen. Damals haben sich die Ressorts mit den größten Problemen in Sachen Nachhaltigkeit – Verkehr, Landwirtschaft – möglichst aus der Strategie ferngehalten. Heute wollen sie alle dabei sein. Dieses Rumgemeckere, Nachhaltigkeit sei langweilig, nichts als Worthülsen, das sind die Kämpfe von gestern. Das Gemoser hat aufgehört, weil es dem Kanzleramt gelungen ist, die Ressorts stärker einzubinden und für ihre Themen in die Verantwortung zu nehmen. Das hat etwas mit dem Staatssekretärsausschuss für Nachhaltige Entwicklung zu tun, aber ein bisschen auch mit der Arbeit des Rates. Da ist etwas gelungen, was im internationalen Vergleich nur wenige haben. Aber hat sich dadurch der Mainstream der Politik verändert? Sehr wahrscheinlich noch nicht.

Alle paar Jahre gibt es einen Peer Review der Strategie. Da kommt dann eine hochrangige Delegation aus der ganzen Welt und schaut, wie es um Nachhaltigkeit in Deutschland steht. Die Letzte hat die ehemalige neuseeländische Ministerpräsidentin Helen Clark geleitet. Da gab es teilweise Lob, aber auch teilweise deutliche Kritik. Hat das irgendetwas bewirkt?

Drei Peer Reviews haben wir als RNE organisiert. Die haben eine sehr starke Wirkung gehabt. Die Regierung musste beispielsweise anerkennen: Es gibt auch Indikatoren, die „off-track“ sind, und sie musste anschließend etwas unternehmen. Die Kritik 2018 war etwa, dass der Nitratgehalt im Grundwasser zu hoch ist, der Endenergieverbrauch im Personenverkehr sowieso, zu viele Menschen übergewichtig sind, nur um drei Beispiele zu nennen. Deshalb mussten die betroffenen Ministerien Aktionspläne erstellen, um das zu beheben. Aber ich will noch eine Geschichte zu den Peer Reviews erzählen.

Klar, gern.

Zusammen mit dem damaligen Ratsvorsitzenden Volker Hauff saß ich 2006 beim Chef des Kanzleramtes der ersten Merkel-Regierung, Thomas de Maizière. Wir sagten ihm, wir müssten die Governance des Nachhaltigkeitsrats verändern. Unser Vorschlag war, dass die Regierung den Vorsitz benennt und die oder der Vorsitzende dann ein Vorschlagsrecht für die Mitglieder des Rates hat, die dann von der Regierung wieder gegengezeichnet werden. Dann hätte man eine Art Bewerbungsverfahren machen können. De Maizière lehnte ab. Er wollte die Bestimmung der Ratsmitglieder nicht abgeben. Ob wir noch andere Ideen hätten, wie man den Rat stärken könnte, fragte er. Und daraufhin haben wir gesagt: Okay, dann machen wir ein unabhängiges Peer Review, international besetzt. So ist der Mechanismus überhaupt zustande gekommen. Bisher traut sich weltweit niemand, das nachzumachen. Bei der OECD und bei der EU machen sie Peer Learning, da tauschen sich Expertinnen und Experten untereinander ein wenig aus. Das ist auch sinnvoll, hat aber nicht die politische Augenhöhe, die man braucht, um einen Impact auszulösen.

Was hat Sie denn mit Blick aufs Ausland am meisten inspiriert in den 20 Jahren beim Rat?

Das waren einzelne Gespräche. Wenn eine Mitarbeiterin des mosambikanischen Umweltministeriums kommt und fragt: Kannst du mir mal helfen? Und dann sagst du drei, vier Sachen und merkst: Okay, zwei kannst du gleich vergessen. Aber eine Idee, die passt. Und dann greift sie das auf, berichtet dir später davon und es hat funktioniert. Das ist ein schönes Erlebnis. Andererseits lernt man natürlich auch viel über Umstände und Gegebenheiten in anderen Ländern. Wie funktioniert Nachhaltigkeit in Kolumbien und wie brüchig ist es dort? Wie brüchig ist überhaupt die soziale Konstruktion in der kolumbianischen Gesellschaft? Wir leben in Deutschland in einer integren, integrierten, gefestigten Hochdemokratie. Und wir wissen, wie fragil das System bei uns dennoch ist. Wie ist es erst bei denen?

Die Kolumbianer waren doch bei der Entwicklung der SDGs federführend, zusammen mit Costa Rica.

Ja, so ist es. Die haben die Idee platziert. Against all odds.

Was war der größte Erfolg des RNE?

Ein Punkt ist: Ohne uns wäre das Thema Nachhaltigkeit nicht bei fünf Regierungen mit verschiedenen Farben präsent geblieben.

Der größte Erfolg des Nachhaltigkeitsrates war die Nachhaltigkeit des Themas Nachhaltigkeit?

Ja, so ungefähr. Wir haben einen Beitrag geleistet, damit es auf der politischen Tagesordnung bleibt. Und damit haben wir Freiräume geschaffen für Menschen, die auf eigene Faust etwas ändern wollten. Die Menschen, die im ganzen Land anpacken, die waren unser größter Erfolg. Oder die vielen Oberbürgermeisterinnen und Oberbürgermeister, die wir eingeladen haben. Die saßen ohne ihre Mitarbeitenden bei uns zusammen am Tisch, von Auge zu Auge und sagten: Das klappt nicht, was du da machst. Aber wir haben da vielleicht eine Idee, wie es geht. Andererseits: Wir haben auch Niederlagen einstecken müssen oder Dinge erlebt, die nicht funktioniert haben.

Zum Beispiel?

Beispielsweise bei Carbon Capture and Storage (CCS), also CO2 aus der Abluft abspalten und unter der Erdoberfläche lagern. Das haben wir in den frühen 2000ern thematisiert und sind dafür verdroschen worden. Niemand hat CCS gewollt. Heute sagen sogar die Agora Energiewende oder das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, dass man diese Technologie braucht. Wir in Deutschland haben aber 20 Jahre nichts zur Einführung der Technologie getan. Shame on us. Ein weiteres Beispiel ist die Ökosteuerreform. Da sind wir in Deutschland ja grandios gescheitert. Wir hatten als Rat in 2005, noch unter Rot-Grün, den Auftrag bekommen, eine Empfehlung zur Reform der Ökosteuer zu erarbeiten.

Heute gibt es weniger ökologisch geprägte Steuern als zu Beginn Ihrer Amtszeit.

Ja, damals haben der ADAC und die Bild-Zeitung Gerhard Schröder die Ökosteuer zerschossen. Der Rat konnte da auch nichts ausrichten, weil plötzlich widerstreitende Nebensächlichkeiten thematisiert wurden, über die sich die Mitglieder nicht einigen konnten. Es ärgert mich heute noch, dass uns das passiert ist.

Ist es in Ihrer Amtszeit oft vorgekommen, dass Sie wütend waren über Formelkompromisse, über Denkfaulheit oder schlichtweg über Nicht-Handeln?

Ja, klar. Aber fürs wütend sein wurde ich nicht bezahlt. Ich wurde dafür bezahlt, Wege zu finden.

Wie viel konnten Sie persönlich denn gestalten?

Bei der Entwicklung der Ratsprojekte hatten meine Leute in der RNE-Geschäftsstelle und ich schon einen großen Gestaltungsspielraum. In den Diskussionen im Rat wurde aber auch einiges weggeschliffen. Ganz am Anfang hatte ich eine Superidee, fand ich jedenfalls, für ein stärkeres öffentliches Auftreten des Rates. Das war den Ratsmitgliedern aber nicht recht. Wir hätten auch Veranstalter des Deutschen Nachhaltigkeitspreises werden können. Das wollten die Ratsmitglieder auch nicht.

Wir haben ein Thema bisher unter den Tisch fallen lassen: Konsum. Dafür hat der RNE den Nachhaltigen Warenkorb geschaffen. Er soll die Menschen persönlich adressieren: Du musst dich ändern und am besten fängst du damit an, was du einkaufst und der Rat sagt dir, worauf du achten musst. Wie ist der Warenkorb überhaupt entstanden?

Aus einer Niederlage. Eigentlich wollten wir, dass in der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie ein Indikator für nachhaltigen Konsum eingebaut wird.

Den gibt es doch.

Es gibt inzwischen eine Schrumpfform davon. Das bisschen Zählen von CO2 durch Konsum ist kein guter Ersatz für das, was wir wollten: Richtig harte Politik, die den Anteil nachhaltiger Produkte erhöht. Und wir wollten zeigen, dass, wer nachhaltig konsumiert, auch besser lebt. Deshalb haben wir vor über 15 Jahren, 2005, zusammen mit dem Ratsmitglied Edda Müller, damals Chefin der Verbraucherzentrale, dem Statistischen Bundesamt vorgeschlagen, bei der Erhebung des Warenkorbs etwas zu ändern. Das ist der Preisindex, der als Grundlage der Berechnung der Inflation dient. Wir haben gefragt, ob man nicht eine Teilerhebung mitlaufen lassen könnte, die alle nachhaltig gekennzeichneten Produkte im Lebensmittelbereich und bei den Konsumgütern erfasst. Dadurch wollten wir zeigen, wie wenig nachhaltig konsumiert wird. Damit wollten wir Politik machen. Den Auftrag ans Statistische Bundesamt hätte aber das Bundesinnenministerium geben müssen und das ist nicht passiert. Daraufhin haben wir den Nachhaltigen Warenkorb selbst entwickelt. Ohne die Statistik, nur als Konsumentenansprache.

Und was hat er bewirkt?

Eine Menge. Das sieht man schon daran, wie regelmäßig die Industrie zu uns gekommen ist und sich über irgendetwas, das im Warenkorb drinsteht oder nicht, beschwert hat. Holz, Fleisch, Leitungswasser. Die Mineralbrunnenleute haben sich immer wieder beschwert, dass wir empfehlen, Leitungswasser zu trinken. Die Fleischindustrie monierte, dass wir weniger Fleischkonsum empfahlen. Vieles davon hat die Verbraucherpolitik inzwischen aufgegriffen.

Bioprodukte gibt’s heute in jedem Discounter. Ist das die große Welle, die Sie sich erhofft haben?

Ist das Glas halb voll oder halb leer? Vor 10 Jahren hätte ich nicht gedacht, dass Aldi fette Anzeigenkampagnen für Tierwohl macht, dass Unternehmen damit werben, weniger zu konsumieren, dass IKEA Möbel zurücknimmt und recycelt. Da ist viel passiert. In Teilen, weil die Unternehmen damit ihre Reputation steigern wollen. Aber das finde ich nicht unehrenhaft. Nachhaltigkeit ist ein Marktvorteil, das muss man kapitalisieren. Es ändert sich aber auch viel, weil junge Leute in den Unternehmen arbeiten und sich fragen: Warum arbeite ich hier eigentlich?

Diese jungen Leute haben vielleicht mal bei den Deutschen Aktionstagen Nachhaltigkeit mitgemacht und so das Thema entdeckt.

Ja, vielleicht. Wir haben mal die 100 jüngsten Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker Deutschlands eingeladen. Ich wollte einfach schauen, wer die so sind. Dann haben wir drei Tage mit denen gearbeitet. Eine davon sitzt heute für die Grünen im Bundestag. Die hat mir später erzählt, wie sie die drei Tage bei uns verändert hätten.

Deutschland will bis 2045 klimaneutral werden, die EU bis 2050. Werden in den nächsten zehn Jahren die Grundlagen dafür gelegt?

Ich erschrecke immer wieder, wenn Johan Rockström vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung vorrechnet, wie viel passieren muss, um die Klimaziele zu schaffen. Minus sechs Prozent CO2, pro Jahr. Ich bin mir nicht sicher, ob das in der gesamten Welt klappt. Aber ich halte es für einen Industriestaat wie den unseren nicht nur für möglich, es ist sogar unsere ethische Pflicht, alles zu tun, um die Klimakatastrophe abzuwenden. Ich glaube, es hat in unserer Gesellschaft klick gemacht. Man darf den Leuten dabei aber nicht die Mär erzählen, dass die Klimaziele mit dem herkömmlichen Wachstumsansatz vereinbar sind. Diese Wachstumsorientierung muss man bekämpfen. Und man muss aufhören, den Leuten diesen völligen Unsinn zu erzählen, dass für sie alles gleich bleibt. Dass alle soziale Härten ausgeglichen werden.

Sie sind jetzt Essayist und Publizist. In Ihrem jüngsten Buch schreiben Sie: Nachhaltigkeitspolitik muss Machtpolitik werden. Was bedeutet das?

Dass man sich, wenn man für den Bundestag kandidiert, mit Nachhaltigkeit gute Chancen ausrechnen können muss. Da müssen wir hinkommen. Wer Oberbürgermeister oder Oberbürgermeisterin werden will, muss seinen Wahlkampf damit führen, wie seine oder ihre Stadt nachhaltig wird. Dieses Machtbewusstsein für das Thema, das fehlt noch. Nachhaltigkeit muss eine hegemonialkulturelle Meinungsmacht werden. Das ist dann der Fall, wenn niemand mehr um das Thema Nachhaltigkeit herumkommt. Der Rat wird hierbei eine wichtige Rolle spielen müssen, denn nur mit Überraschungen, guten Einfällen und auch mal mit dem Verlassen der üblichen Bahnen öffnet der Rat den sicheren (und nötigen) Aktionsraum zum Regulieren, Protestieren, Denken und Machen. Dafür wünsche ich allen Beteiligten eine gute Hand.