„Ungleichheit abbauen muss in Rio genauso gelten wie in Duisburg“

Wie wird der Wiederaufbau nach dem Ende der Pandemie sozial und ökologisch? Darüber diskutiert unter anderem Ratsmitglied Lisi Maier auf der Online-Konferenz des Rates für Nachhaltige Entwicklung am 15. Juni. Im Interview vorab sagt sie: Den Hilfspaketen aus Brüssel und Berlin fehlt die globale Perspektive.

Frau Maier, Sie sind als Vorsitzende des Deutschen Bundesjugendrings und des Bundes der Deutschen Katholischen Jugend eine der Sprecherinnen Ihrer Generation und bringen sich seit kurzem auch als Mitglied im Rat für Nachhaltige Entwicklung ein. Werden die Billionen an Corona-Hilfen in der EU aus Ihrer Sicht im Sinne der kommenden Generationen eingesetzt?

Lisi Maier: Ich finde, da muss man klar differenzieren: Was ich positiv sehe ist, dass der Druck der letzten Jahre durch unterschiedliche gesellschaftliche Kräfte wirkt. Die ökologische Zukunftsperspektive, wie sie Jugendbewegungen auch schon vor, aber verstärkt durch Fridays for Future gefordert haben, spielt eine riesige Rolle. Das Konjunkturpaket der Bundesregierung zeigt, dass es einen Perspektivenwechsel gab. Inwiefern die Transformation aber strukturell nachhaltig weiterverfolgt wird, das wird man erst noch sehen, gerade auch in den Paketen auf europäischer Ebene. Uns Jugendverbänden ist sehr wichtig, dass Klima- und Umweltschutz und die sozial-ökologische Transformation noch viel stärker als die wirtschaftlichen Interessen betont werden.

Das geplante 750-Milliarden-Paket „Next Generation EU“ kann eine Bürde für die nächste Generation werden. Die Rückzahlung soll bis ins Jahr 2058 dauern. Ist das Geld gut investiert?

Schulden aufzunehmen muss nicht falsch sein, wenn man das Geld richtig einsetzt. Ich kann es nachvollziehen, dass man alle Interessen austarieren will. Man müsste aber gerade jetzt alternative Wachstumskonzepte in den Blick nehmen, die auf Bildung, soziale Gerechtigkeit und ökologische Transformation setzen. Bei dem Konjunkturpaket in Deutschland fehlt mir beispielsweise der Aspekt Geschlechtergerechtigkeit. Unternehmen, die sich da positiv hervortun, müssten stärker unterstützt werden als andere, wenn man so viel Geld ausgibt. Soziale Gerechtigkeit beschäftigt meine Generation oder auch noch jüngere Menschen stark.

Was schlagen Sie praktisch vor?

In einem solchen Gesamtkonzept muss man weiter als national oder europäisch denken, wir sind ja weltweit vernetzt. Wir sehen doch aktuell, was unser Konsum oder unser Nicht-Konsum in den produzierenden Ländern auslöst. Die Handelspolitik der EU spielt also eine entscheidende Rolle. Unser Anspruch muss sein, alternatives Wirtschaften weltweit umzusetzen. Deshalb ist ein Lieferkettengesetz so wichtig, das die EU-Kommission jetzt angekündigt hat und wozu auch in Deutschland Vorschläge auf dem Tisch liegen. Aus Sicht der Jugendverbände braucht es klare Sanktionen für Unternehmen bei Verstößen gegen Sozial- und Umweltprinzipien in ihren Lieferketten.

Auch der RNE hat eine Haltung zu Lieferketten formuliert.

Genau, das ist ein wichtiges Thema für den Rat. Für mich persönlich ist es wichtig, dass Unternehmen verpflichtet werden, Menschenrechte und Umweltstandards einzuhalten. Corona zeigt, was das in den produzierenden Ländern bedeutet: Derzeit sind dort vor allem Frauen von Kündigungen betroffen, weil unter anderem weniger Kleidung in den europäischen Ländern konsumiert wird. Große Konzerne sind in den Entwicklungsländern aber kaum zu sozialen Standards verpflichtet. Große Modeunternehmen kündigen jetzt kurzfristig die Verträge, Menschen, die keine sozialen Sicherungen haben, werden deshalb von heute auf morgen entlassen. Das trifft ganze Familien. So etwas könnte ein Lieferkettengesetz künftig verhindern, wenn es richtig gemacht wird.

Im Green Deal und Next Generation EU geht es vor allem um Klimaschutz.

Es liegt jetzt an den Akteuren der Zivilgesellschaft, mehr Druck auszuüben und die europäischen Entscheidungsträger in die Verantwortung zu nehmen. Nachhaltigkeit muss umfassender sein, ökologisch und sozial. Wir haben in den 90er Jahren als katholische Jugendverbände mit der Internationalen Arbeitsorganisation ILO einen Boykott gegen Coca-Cola organisiert. Da ging es sowohl um den Ressourcenverbrauch bei Abfüllanlagen in Indien wie auch um Repressionen gegen Gewerkschaftler*innen in Kolumbien. Ernüchternd war, dass sich die Situation in den Produktionsländern kaum verändert hat. Aber in vielen Bildungsstätten in Deutschland sind damals Getränkeautomaten von Coca-Cola abmontiert worden und durch alternative Getränkeprodukte ersetzt worden. Wir haben dazu in den vergangenen Jahren die Bildungsarbeit zum fairen Handel ergänzt. Neben dem gesetzlichen Rahmen braucht es auch gute Bildungsarbeit, um ein gesellschaftliches Bewusstsein für Nachhaltigkeitsfragen zu ermöglichen.

Das klingt, als sei der Weg in die sozial-ökologische Transformation lange und die Milliarden aus den Corona-Paketen allenfalls ein Schritt dahin?

Ich glaube, dass der Weg sehr weit ist. Wenn ich mir das deutsche Konjunkturpaket anschaue, dann ist gut, dass es nicht auf alte Mobilitätskonzepte setzt. Aber das macht noch keine Mobilitätswende. Wir brauchen mehr Güterverkehr auf der Schiene und auf Schiffen und weniger in der Luft und auf der Straße. Für junge Menschen spielt es auch eine große Rolle, zu überlegen, wie der Bahnverkehr grenzüberschreitend gestärkt werden kann. Ich habe mit 18 meinen ersten Interrail- Trip gemacht und habe in den letzten Jahren auf den Gleisen erlebt, dass vor allem der grenzüberschreitende europäische Nachtzugverkehr eingestellt worden ist. Dann ärgere ich mich schon, wenn man sieht, was man in die Hand nimmt, um die Lufthansa zu retten und es durch die günstigere Kerosinsteuer eine Subventionierung des Flugverkehrs gibt, zugleich aber der Fernzugverkehr für viele Menschen immer weniger erschwinglich ist. Ich hoffe, dass die aktuelle Situation jetzt für ein Umdenken genutzt wird.

Die EU nimmt jetzt sehr viel Geld in die Hand, um die heimische Wirtschaft zu schützen. Entwicklungsländer haben das Geld nicht. Bekommen wir eine noch stärkere globale Schieflage?

Transformation muss dazu führen, dass überall in der Welt soziale Ungerechtigkeiten abnehmen und Klima und Biodiversität geschützt wird. Im innereuropäischen Kontext haben die Jugendverbände nach der Finanzkrise deutlich kritisiert, wie stark in südlichen Ländern wegen Auflagen der EU bei sozialen Aufgaben und der Daseinsvorsorge gespart worden ist. Jetzt haben diese Länder mit privatisierten Gesundheitssystemen besonders stark mit der Pandemie zu kämpfen. Wenn man erst nach Afrika blickt, wird deutlich, dass die Covid-19 Pandemie existentielle Nöte stärker hervortreten lässt und gleichsam verstärken wird.

Wäre Nachhaltigkeit der beste Schutz vor Pandemien?

Genau. Armut und Ungleichheit abbauen muss in Rio genauso gelten wie in Duisburg. Man muss das weltweit denken. Mit unseren Partnern aus der internationalen Jugendarbeit lernen junge Menschen voneinander, das ist in Bezug auf Resilienz wichtig. Wir haben als deutscher Bundesjugendring Partnerorganisationen in Belarus. Für Präsident Lukaschenko gibt es Corona nicht. Wir sehen gerade, wie wichtig dort zivilgesellschaftliche Strukturen sind. Deshalb glaube ich, dass Institutionen wie der Europarat, wo Deutschland ab November 2020 den Vorsitz für sechs Monate übernimmt, in der Coronakrise eine besonders große Verantwortung in Menschenrechtsfragen haben. Auch für die deutsche EU-Ratspräsidentschaft ab Juli 2020 ist wichtig, bei den Verhandlungen um den mehrjährigen Finanzrahmen auch die sozialen und ökologischen Fragen in den Fokus zu nehmen.

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