Mehr Streiten, mehr Experimentieren – Die Bau- und Wohnwende auf den RENN.tagen

Wien, Kopenhagen, Utrecht – Vorbilder für eine nachhaltige Stadtentwicklung, finden die Teilnehmenden der diesjährigen RENN.tage in Hannover. Eine Stadt in Deutschland fällt niemandem spontan ein – noch nicht. Denn auch hier nimmt das Thema an Fahrt auf.

Bauen und Wohnen war das Transformationsthema des Jahres 2023 – für das Gemeinschaftswerk Nachhaltigkeit etwa mit seiner Veranstaltungsreihe Bauwende unterwegs und den Aktivitäten der RENN. Alle vier Regionalen Netzstellen Nachhaltigkeitsstrategien (RENN) haben das ganze Jahr über dazu Veranstaltungen mit Expert*innen und Interessierten gemacht. Auf dieser Wissens- und Ergebnisgrundlage fanden nun am 28. November die RENN.tage in Hannover statt. Im Mittelpunkt die Fragen: Wie setzt man eine gemeinwohlorientierte, klimagerechte Stadt- und Quartiersentwicklung um? Wie gelingt die Bau- und Wohnwende im ländlichen Raum? Wie kann Biodiversität als Maßnahme zur Klimaanpassung stärker in den Fokus gerückt werden? Und wie können die Ideen von Pionieren eingebunden und in die Breite getragen werden?

Myriam Rapior, stellvertretende Bundesvorsitzende des Bundes für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) e.V. und Mitglied im Rat für Nachhaltige Entwicklung (RNE), betont in ihrem Grußwort, dass der Bausektor sowohl in Deutschland als auch global gesehen ein wichtiger Hebel bei der Nachhaltigkeitstransformation sei. Was sie besonders schmerzt: „Dass wir mit abgerissenen Gebäuden und ihren teilweise wertvollen Materialien nichts tun. Das darf nicht sein, hier müssen wir bereits bei der Planung von Gebäuden umdenken.“ Der Bausektor müsste in kurzer Zeit klimaneutral und ressourceneffizient werden, Biodiversität schützen und Emissionen reduzieren – dabei müsse Wohnen aber für alle bezahlbar bleiben. Eine Herausforderung – dem widerspricht an diesem Tag niemand. Wohnen sei nicht nur ein soziales, sondern auch ein emotionales Thema. Dem Wunsch vieler Menschen nach einem Einfamilienhaus stehe die Bedrohung der auch für die Menschheit lebensnotwendigen Biodiversität gegenüber, so dass man sich weitere Flächenversiegelungen für neue Siedlungen gut überlegen müsse, so Rapior.

„Transformation der Städte und Gemeinden – was geht bis 2030?“ – diese Frage hatte das RENN-Team Jörg Knieling, Professor an der HafenCity Universität Hamburg gestellt. Seine Empfehlung: Mehr Streit – denn ohne ihn würde keine Transformation entstehen. „Streit und Protest sind Teil des öffentlichen Meinungsbildungsprozesses“, so Knieling. „Die Energie und positive Kraft, die in diesem Protest steckt, die müssen wir in die gesellschaftlichen Transformationsprozesse hineinholen.“ Seine weitere Empfehlung: Experimente zulassen, etwa die zeitlich begrenzte Sperrung einer Straße für den Autoverkehr. „Das Experiment ermöglicht uns, aus der Polarisierung herauszukommen – wenn etwas nur auf Zeit gilt, mit der Option, es wieder zurückzudrehen oder zu verbessern, wenn die Idee noch nicht optimal war, dann fällt die Zustimmung für das Ausprobieren leichter.“

Nachverdichtung als Chance für klimaneutralen und bezahlbaren Wohnraum

In der Podiumsdiskussion zur sozialökologischen Bau- und Wohnwende erklärt die Architektin Ulla Basqué, warum sie sich bei den Architects4 Future Deutschland e.V. engagiert. „Die Bauwirtschaft produziert 229 Millionen Tonnen Müll pro Jahr, das sind 55 Prozent am Gesamtbeitrag – eine unglaubliche Zahl. Deshalb wollen wir im Bestand weiterbauen, verhindern, dass Gebäude, die solide sind, für Neubauten abgerissen werden. Auch der energieärmste Neubau verursacht durch den Abriss immer noch mehr CO₂ als wenn ich am Bestand weiterbaue.“ Ihr Plädoyer: Nachverdichtung in Städten, um klimaneutralen und bezahlbaren Wohnraum für geringe und auch mittlere Einkommen zu schaffen.

Für Susanne Schmitt, Direktorin des Verbands der Wohnungs- und Immobilienwirtschaft in Niedersachsen und Bremen e.V. mit insgesamt 400.000 größtenteils genossenschaftlichen Wohnungen sind Neubauten eh kein Thema. „Wir haben im Moment Rahmenbedingungen und Kosten, mit denen wir im Neubau 18 Euro Miete pro m² verlangen müssten. Das ist nicht bezahlbar. Deshalb sanieren wir den Bestand – und dafür brauchen wir erneuerbare Energien und die entsprechenden Stromnetze, damit Wohnen bezahlbar bleibt.“ Ihre Forderung an die Politik: Ein Ausbauplan des Landes für Erneuerbare Energien und eine frühzeitige Einbeziehung der großen Bestände in die Wärmeplanung der Kommunen.

Paul Eldag, Fachbereichsleiter für die Baulandentwicklung der Niedersächsischen Landgesellschaft in Hannover, plädiert für verdichtetes Bauen im ländlichen Raum. „Wir haben hier in Niedersachsen viele Einfamilienhäuser. Wir müssen zusehen, dass wir Flächenverbrauch reduzieren und die Leute wieder enger wohnen“ – was durch verschiedenste Bauformen auch möglich sei. Etwa durch Mehrfamilienhäuser oder eine geschlossene Bauweise beim Einfamilienhaus wie zum Beispiel einem Atriumbau. Moderatorin Tanja Busse wollte wissen, was mit den vielen alten landwirtschaftlichen Gebäuden im ländlichen Raum sei. Es sei nicht immer leicht, die Eigentumsverhältnisse zu klären, so Eldag. Um an die ungenutzten Flächen heranzukommen, brauche es oft zehn bis 15 Jahre.

Zeit, die aus Sicht von Myriam Rapior nicht vorhanden ist, nicht nur in Bezug auf die Klärung von Eigentumsverhältnissen. „Ist es gerecht für jüngere und nachfolgende Generationen, wenn wir immer warten? Wir verlieren unsere ökologische Vielfalt gerade in einem erschreckenden Maße. Wenn wir uns die ökologischen Kennzahlen vor Augen führen, müssten wir eigentlich sofort den Schalter umlegen – und diese Entscheidung müsste von oberster politischer Ebene kommen.“ Ihr Plädoyer lautet, die Leute zu konfrontieren, die bislang wirtschaftliche Aspekte über Biodiversität und Soziales stellen. Und an die Mitstreiter*innen auf dem Podium gewandt: „Wir können uns gerne gemeinsam überlegen, wen wir als nächstes anschreiben!“

Neben den eingangs genannten vorbildhaften Städten des nachhaltigen Bauens und Wohnens verweist Michael Mattern von RENN.west auf Ulm, das konsequent Boden kauft, Eigentümerin bleibt und verpachtet. Mattern: „Wien macht das auch ganz hervorragend – warum gelingt uns das in Deutschland sonst nicht?“ Susanne Schmitt verweist auf die hohen Summen, die die Stadt Wien seit mehr als 100 Jahren für die Wohnraumförderung ausgibt. „100 Jahre können wir nicht nachholen“, so Schmitt. Das Geld für Wohnraumförderung in großem Umfang sei auch mit Blick auf die aktuelle Haushaltssituation einfach nicht da.

Vielfältige Visionen vom nachhaltigen Bauen und Wohnen – und wie man sie umsetzt

In den Workshops am Nachmittag geht es um nachhaltiges und zukunftsfähiges Leben im ländlichen Raum, um biodiverse und klimaangepasste Quartiere und Gewerbe-Gebiete, Klima- und sozialgerechte Gestaltung und Sanierung von städtischen Quartieren, ein Planspiel, in dem die Teilnehmenden der Realität des Immobilienmarktes mit gemeinwohlorientierter Stadtentwicklungspolitik entgegentreten. Auch Ideen für die derzeit laufende Weiterentwicklung der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie (DNS) werden diskutiert, etwa die Aufnahme neuer Indikatoren wie Leerstand oder die Wohnfläche pro Einwohner*in. Die Nachhaltigkeitsstrategie zielt unter anderem darauf ab, dass Wohnraum bezahlbar bleibt, zusätzliche Flächen für Siedlungs- und Verkehrszwecke begrenzt werden und der Verbrauch von Ressourcen gesenkt wird. Die RENN wollen dem Nachhaltigkeitsrat die Ergebnisse des gesamten Veranstaltungsjahres Bauen und Wohnen zur Verfügung stellen.

Und die wichtigsten Erkenntnisse der RENN.tage? Danielle Rodarius von RENN.süd fasst es so zusammen: „Es geht nicht nur um Fachwissen, sondern um Prozesswissen.“ Auch um das Wissen, wie man eine Vision verwirklichen kann. Josef Ahlke von RENN.mitte: „Was ich mitnehme in Anlehnung an Herrn Professor Knieling: Wir sollen mehr miteinander streiten, mehr experimentieren und mehr gemeinsam tun.“ Der Druck, der aus den aktuellen politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen entsteht, eröffne auch neue Spielräume. „Wir müssen jetzt mit anderen Partner*innen als bisher ins Gespräch kommen und neue Allianzen knüpfen.“ Darum geht es als nächstes – verstärkt die Akteure anzusprechen, für die nachhaltiges Bauen und Wohnen bislang kein Thema ist. Und sie zu überzeugen, es zur gemeinsamen Sache zu machen.