„Wir wollen Trendsetter für andere Unternehmen sein“

Peter Bostelmann hat im Jahr 2012 bei SAP die “Global Mindfulness Practice” gegründet und ist inzwischen als Chief Mindfulness Officer auf Vorstandsebene dafür verantwortlich, das Unternehmen und seine Mitarbeiter achtsamer sich selbst und anderen gegenüber werden zu lassen. Ein Gespräch über Ursprünge, Chancen und Vorurteile – und darüber, dass Meditation in einigen Jahrzehnten genauso selbstverständlich sein könnte wie regelmäßiger Sport.

Der Ausdruck “Achtsamkeit” – oder auf Englisch: “Mindfulness” – hat in den vergangenen Jahren eine beachtliche Karriere hingelegt, überraschenderweise auch in der Unternehmenswelt. Sie gehören zu den Pionieren dieser Entwicklung. Was ändert sich da gerade?

Peter Bostelmann: Erst mal ist Achtsamkeit ja gar kein neues Konzept, sondern uralt. Es ist etwas, was wir alle von Geburt an in uns tragen und was wir wiederentdecken können. In den alten Weisheitstraditionen, etwa dem Buddhismus, beschäftigen sich Menschen seit Tausenden von Jahren damit. Nur ist das in der westlichen Welt komplett verdrängt worden. Seit den 1950er Jahren kam die Idee dann über San Francisco, wo ich lebe und arbeite, wieder zu uns zurück. Immer mehr Menschen haben in dieser Zeit entdeckt, dass sie das weiterbringt. Da ist es irgendwie zwangsläufig, dass manche von ihnen das aus ihrem Privatleben irgendwann auch in ihre Berufswelt einbringen…

So wie Sie. Wie sind Sie denn zum ersten Mal mit Achtsamkeit, mit Yoga und Meditation in Berührung gekommen? Für einen Wirtschaftsingenieur, der für die SAP arbeitet, scheint das alles andere als zwangsläufig…

Und genau deswegen bin ich der richtige Mensch, um das Thema bei der SAP unterzubringen. Denn ich war früher selbst diesem so typisch deutschen, männlichen Rollenklischee verhaftet: Yoga, Meditation, das war alles nichts für mich, das war esoterisch. Wenn sich meine damalige Lebensgefährtin damit beschäftigte, habe ich das mit Erstaunen betrachtet und etwas belächelt. Aber dennoch: Wenn sie von ihren Schweigeseminaren zurückkam, ist mir schon aufgefallen, dass ihr das richtig gutgetan hatte – und das hat meine Neugierde geweckt. Dann und wann habe ich daraufhin mal so eine halbe Stunde meditiert, und das fand ich auch ganz gut – eine gute Eintrittserfahrung.

Diese Erfahrung machen viele Menschen. Was hat Sie bewegt, sich intensiver damit auseinanderzusetzen?

Eine private Krise, die ich einige Jahre später durchgemacht habe. Die war im Grunde der Motor, den es für mich gebraucht hat. Ich hatte damals mein Gefühl zu mir selbst verloren und wusste nicht, in welche Richtung ich gehen sollte. Ein Freund hat mir damals geraten, selbst mal für ein paar Tage an einem Schweige-Retreat teilzunehmen. Ich wurde überrascht: Ich war davon ausgegangen, dass ich mich in einen entrückten, träumerischen Zustand versetzen würde, aber das war überhaupt nicht so. Im Gegenteil: Ich wurde immer ruhiger und bewusster im Geist, meine Sinne schärften sich. Es entstand eine innere Klarheit, von der ich gar nicht wusste, dass ich dazu in der Lage bin. Ich habe gemerkt, dass ich meine innere Haltung beeinflussen kann, und das hat mich beeindruckt.

Was hat Sie motiviert, diese Erfahrungen in Ihr Unternehmen hineinzutragen?

Es tat mir auch beruflich gut, dass ich gelernt hatte, mich zu beobachten. Ich habe in Stress-Situationen besser reagiert, konnte meine Emotionen besser regulieren, bin dem Berufsalltag mit einer größeren inneren Ruhe und Klarheit begegnet – und hatte auch noch mehr Freude an der Arbeit. Ich habe weniger auf Reize und Trigger reagiert, stattdessen selbstbestimmter agiert. Auch meinen Kollegen ist das aufgefallen, und zwar positiv.

Hatten Sie Vorbilder in anderen Unternehmen?

Einige Unternehmen haben schon früh Programme aufgelegt, ohne dabei allerdings den Begriff “Mindfulness” zu verwenden. Pamela Weiss hat bereits 2004 das “Personal Excellence Programme” entwickelt, das in Unternehmen wie Genentech, Roche, Salesforce and Pixar eingesetzt wurde. Bei Google wurden ab 2007 solche Trainingsprogramme entwickelt. Das hatte ich alles beobachtet, und ab 2012 habe ich begonnen, auch in meinem Unternehmen darüber zu sprechen. Zeitgleich hatte Google seine Programme für die Öffentlichkeit freigegeben, und wir haben das dann bei uns pilotiert. Ich habe das damals ganz klein gedacht. Nie hätte ich gedacht, dass das jemals so groß werden würde.

Es hat bestimmt geholfen, dass Sie die Sprache der Business-Welt sprechen. Sie zeigen Studien vor, die den Effekt solcher Programme belegen, argumentieren – wenn auch ein wenig ironisch – damit, dass Achtsamkeitstrainings 200 Prozent ROI (Return on Investment) bringen… wie wichtig ist das?

Das ist notwendig, denn wir schwimmen immer noch gegen den Strom. Wir haben weiterhin mit vielen Vorurteilen zu tun – zum Beispiel, dass Achtsamkeitstrainings eine Art Burnout-Prävention seien, dass man sowas nur praktiziere, wenn man Probleme habe, oder dass erfolgreiche, produktive Mitarbeiter schlicht keine Zeit für so etwas hätten. Dabei geht es doch darum, die Fähigkeiten der Mitarbeiter zu Selbsterkenntnis und Selbstbewusstsein zu stärken. Inzwischen haben wir von über 98.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern etwa zehn Prozent trainiert. Aber es gibt immer noch viele, auch hohe Führungskräfte, die ganz klar sagen: Sowas brauchen wir nicht.

Was tun sie, um zu überzeugen?

Ein Bekannter hat mal zu mir im Scherz gesagt: SAP übernimmt die Standardimplementierung von Achtsamkeit – mit deutscher Gründlichkeit. Ich musste lachen, aber so falsch finde ich das gar nicht: Nachdem ich nun schon über 20 Jahre bei der SAP bin und in dieser Zeit auch große Projekte geleitet habe, ist es doch ganz natürlich, dass ich mich frage: Wie setzt man so etwas auf, damit es möglichst groß und erfolgreich wird und nachhaltig weiterwächst? Ich bin überzeugt: Nicht mit missionarischer Begeisterung, denn da gerät man schnell unter Esoterik-Verdacht und kann nicht mehr viel bewegen. Sondern mit klaren Strukturen, in der Sprache des Unternehmens, und indem man die Leute mitnimmt, einen nach dem anderen. Unser Vorteil ist es, dass wir wirklich organisch wachsen wollen und können, nicht im Hauruck-Verfahren. Hier herrscht keine Start-up-Mentalität. In unserem erweiterten Team haben wir inzwischen 43 Trainer, die neben ihrem Hauptjob noch 20 Prozent ihrer Zeit in die Weiterbildung ihrer Kollegen investieren. Und mein Kernteam besteht mit mir aus sechs Leuten. Jedes Jahr können wir zehn bis 20 neue Trainer ausbilden. Wir arbeiten heute auch als Dienstleister für andere Unternehmen, zum Beispiel Siemens oder Procter & Gamble und wir haben gerade beschlossen, mit kleinen Videos unsere Ideen auch in eine breitere Öffentlichkeit zu tragen. Damit sind wir weltweit einzigartig, und wir wollen Trendsetter für die anderen Unternehmen sein, die gerade damit beginnen, ebenfalls etwas aufzubauen.

Unternehmen handeln in der Regel nicht altruistisch. Bieten sie Achtsamkeitstrainings nur an, um dadurch einen Mehrwert aus ihren Mitarbeitern zu ziehen?

Auch das ist ein gängiges Vorurteil, besonders in Deutschland. Die „bösen Unternehmen”, die immer nur auf den eigenen Vorteil bedacht sind. Aus meiner Sicht ist es in Ordnung, wenn ein Unternehmen funktionieren will und eine Gewinnerwartung hat – denn nur so überlebt es in unserem System. Damit ist es für mich aber auch kein Widerspruch, dass etwas dem Unternehmen und gleichzeitig seinen Mitarbeitern guttun kann. Manchmal ist das auch nicht so simpel, wie man sich das von außen möglicherweise vorstellt: Bei der SAP gehen wir zum Beispiel davon aus, dass eine bestimmte Anzahl Mitarbeiter das Unternehmen verlässt, nachdem sie an einem Achtsamkeitstraining teilgenommen haben, weil sie feststellen, dass sie etwas Anderes mit ihrem Leben anfangen wollen. Das ist für das Unternehmen in Ordnung.

Selbstoptimierung liegt im Trend. Manchmal keimt deswegen der leise Verdacht auf: Muss ich mich jetzt auch noch mental optimieren? Anders formuliert: Muss ich auch noch meditieren, wo ich doch schon joggen gehe?

Ich halte das für zu linear gedacht. Es geht ja im Gegenteil darum, Freiheiten zu schaffen, ein größeres Selbst-Bewusstsein. Es geht darum, mit sich besser in Kontakt treten, mehr Acht auf sich zu geben. Die Frage ist doch: Wie will ich das Geschenk meines Lebens nutzen? Es gibt Studien, die zeigen, dass Menschen, die Achtsamkeit praktizieren, zu einem ethischeren Handeln neigen. In anderen Worten: Wenn man mit sich in Kontakt ist, fällt es schwerer, sich böse zu verhalten. Andere Studien, die zeigen, dass solche Menschen ihr Konsumverhalten verändern, dass sie weniger brauchen, also auch verbrauchen.

Der Trend zu mehr Achtsamkeit könnte also auch zu gesellschaftlichen Veränderungen und Verbesserungen führen?

Das glaube ich durchaus. Ich glaube, in 20, 30 Jahren wird es eine gesellschaftliche Normalität sein, regelmäßig zu meditieren. Vor 150 Jahren wussten auch die wenigsten, wie wichtig persönliche Hygiene ist. Und wir wissen heute auch, dass man regelmäßig Sport machen oder sich gut ernähren muss, um gesund zu bleiben – auch wenn das dann nicht jeder macht. Wenn viele Menschen ein anderes Bewusstsein für sich und füreinander entwickeln, dann verändert das auch die Gesellschaft, in der sie zusammenleben.

Peter Bostelmann diskutiert auf der 19. Jahreskonferenz des Rates für Nachhaltige Entwicklung das Thema „Achtsamkeitspolitik – wie fördern wir unser Miteinander?“. Die Konferenz findet am 4. Juni 2019 in Berlin statt und kann auf Twitter via #RNE19 verfolgt werden. Die Veranstaltung ist ausgebucht. Das Programm im Plenum können Sie hier per Livestream verfolgen.