In Zeiten multipler globaler Krisen

Krieg, Hunger, Pandemie – Warum es gerade jetzt globale Nachhaltigkeitsziele braucht und was sich ändern muss, um sie trotz aller Rückschläge durchzusetzen.

Wie steht es um die globalen Nachhaltigkeitsziele (Sustainable Development Goals, kurz SDGs), angesichts zahlreicher globaler Krisen, vom Krieg in der Ukraine bis zu den Auswirkungen der Klimakrise? Diese Frage diskutierte ein hochrangig besetztes Panel auf der Jahreskonferenz des Rates für Nachhaltige Entwicklung (RNE).

UN-Generalsekretär António Guterres war noch im Juli, auf dem Hochrangigen Politischen Forum zur Nachhaltigen Entwicklung (HLPF) in New York, schonungslos in seiner Analyse gewesen: Die Welt befinde sich in großer Not, ebenso schlecht stehe es um die nachhaltigen Entwicklungsziele, sagte er da. In seiner Videobotschaft ermutigte er das Publikum jedoch: „Wir können das Blatt wenden, wenn wir alle zusammenstehen, Regierungen, Zivilgesellschaft und der Privatsektor.“ Aber dazu brauche es, mehr denn je, die Unterstützung von Ländern wie Deutschland.

Heidemarie Wieczorek-Zeul: Wir müssen eine neue Blockbildung verhindern

Guterres selbst hatte bereits im vergangenen Jahr verschiedene Reformen für einen inklusiven und vernetzten Multilateralismus angestoßen, zusammengefasst in „Our Common Agenda“ – Guterres schlägt unter anderem einen UN-Zukunftsgipfel vor. Heidemarie Wieczorek-Zeul, ehemalige Bundesentwicklungsministerin und RNE-Mitglied, würdigte den Vorschlag von Guterres, einen regelmäßigen gemeinsamen Gipfel der G20 und der Staaten im Ecosoc, dem Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen, gemeinsam mit den globalen Finanzinstitutionen einzurichten. Dieser könne als eine Art globaler Nachhaltigkeitsrat fungieren, der als Kompass für die weitere Entwicklung der SDGs diene.

„Das multilaterale System ist nicht geeignet, um die kombinierten Krisen, mit denen wir konfrontiert sind, zu lösen“, sagte Wieczorek-Zeul. Den Industrieländern, insbesondere den G7-Staaten und der EU, warf sie Scheinheiligkeit vor, weil sie den Kampf gegen die Klimakrise und die Pandemie nicht ausreichend finanzierten. „Wir müssen zu unseren Verpflichtungen stehen“, so Wieczorek-Zeul. Der deutsche Finanzplan für 2023 reiche nicht aus, um die SDGs voranzubringen. Applaus erntete Wieczorek-Zeul für ihre Forderung, Demokratie, einen regelbasierten Multilateralismus und internationales Recht gegen die Verächter all dessen zu verteidigen – aber gleichzeitig alles dafür zu tun, eine neue Blockbildung in der globalen Gemeinschaft zu vermeiden. „Ich weiß, das passiert, aber wir müssen es verhindern“, sagte sie.

Ellen Johnson Sirleaf: Größer denken und mutig voranschreiten

Auch die Friedensnobelpreisträgerin Ellen Johnson Sirleaf, bis 2018 Präsidentin Liberias, zählte in einer Videobotschaft auf, wo das multilaterale System in jüngster Vergangenheit zu wenig für die Menschen und den Planeten geleistet hat: Beim Klimaschutz, bei der globalen Gesundheitsvorsorge, der Nahrungsmittelsicherheit, beim Umgang mit Zwangsmigration und bei der Bewahrung von Menschenrechten und Demokratie.

Sirleaf ist zudem Co-Vorsitzende des High-Level Advisory Board on Effective Multilateralism, das Guterres gegründet hat, um die Ideen aus “Our Common Agenda” umzusetzen. „Seid mutig, denkt größer, wir können die Herausforderungen unserer Zeit nicht nebenbei lösen“, sagte sie. Sie rief Europa und Afrika auf, gemeinsam am transformativen Wandel zu arbeiten – und multilaterale Institutionen zu schaffen, in denen der globale Süden eine wirkliche Rolle in Entscheidungsprozessen spielen.

Svenja Schulze: Strukturelle Antworten auf aktuelle Krisen

Svenja Schulze, aktuelle deutsche Bundesentwicklungsministerin, gab vier Antworten auf die aktuellen Krisen. Erstens: Weltweit litten 828 Millionen Menschen unter Hunger – und damit deutlich mehr als noch vor der Pandemie. Deshalb habe man im Kreise der G7 zusammen mit der Weltbank die Global Alliance for Food Security ins Leben gerufen. Das Ziel sei nicht nur akute Hilfe, sondern auch strukturelle Veränderung, etwa resilientere Agrarsystem aufzubauen. Zweitens, die Auswirkungen der Pandemie seien vor allem im globalen Süden noch lange zu spüren. Deshalb arbeite man daran, dass Impfstoffe weltweit verfügbar sind und auch weltweit produziert werden. Gesundheitssysteme müssten resilienter werden.

Drittens, so Schulze, müssten Menschen weltweit Teil der Bemühungen im Kampf gegen den Klimawandel werden. Deutschland arbeite deshalb daran, dass die Transformation gerecht verlaufe. Viertens: Es brauche Geschlechtergerechtigkeit, um diese Ziele zu erreichen. „In den meisten Ländern der Welt haben Frauen nicht die gleichen Rechte wie Männer“, so Schulze. Die Forschung zeige aber, dass Gesellschaften, in denen Frauen gleichberechtigt sind, auch nachhaltiger sind. Deshalb fördere Deutschland eine feministische Entwicklungs- und Außenpolitik.

Jennifer Morgan: Möglichst vielfältige Partnerschaften

Die ehemalige Greenpeace-Chefin und seit März 2022 Sonderbeauftragte für internationale Klimapolitik im deutschen Außenministerium, Jennifer Morgan, betonte: „Wenn die SDGs nicht adressiert werden, dann kann auch die Klimakrise nicht gelöst werden.“ Grundlage dafür sei ein globales, ökologisches, soziales und marktbasiertes Wirtschaftssystem. „Deutschland hat eine große Verantwortung“, führt sie weiter aus: „Wir leben in einem disruptiven Moment.“ Bei der nächsten UN-Klimakonferenz im November in Ägypten wird Morgan als „Facilitator“ zusammen mit der chilenischen Umweltministerin die Verhandlungen um Entschädigungen für künftige Wetterkatastrophen leiten. Die Debatten um – wie Experten sagen „Loss and Damage“ – haben schon auf früheren Klimakonferenzen für große Konflikte gesorgt, weil die Industrieländer zentrale Forderungen der armen Staaten ablehnen. Seit mit Russland ein Mitglied des UN-Sicherheitsrates brutal internationales Völkerrecht bricht, wird es keinesfalls leichter. Wie die internationale Staatengemeinschaft, die bisher den Weg des Multilateralismus verfolgt hat, jetzt vorankommt: offen. Morgan zeigte sich zuversichtlich, es gebe „neue Chancen mit Verbündeten zusammenzuarbeiten“.

Emmanuel Ametepey: Afrika ist voller Innovationen

Welches Potential in Partnerschaften steckt, zeigte Emmanuel Ametepey, Direktor des African Youth SDGs Summit – ein 2017 gegründetes Forum, das mittlerweile mehr als 100.000 junge Menschen in Afrika erreicht. „Afrika ist der Kontinent der Jugend, ein Kontinent voller brillanter Ideen, mit viel Kreativität und Innovation. Die Frage ist: Wie können wir das unterstützen?“, fragt er. Im Juni 2023 findet der fünfte African Youth SDGs Summit in der sambischen Hauptstadt Lusaka statt. „Ich würde gerne eine Einladung an die jungen Menschen in Europa aussprechen: Kommt zu uns. Lasst uns gemeinsam Ideen und Lösungen entwickeln, wie wir die SDGs umsetzen können“, sagte Ametepey. Im vergangenen Jahr hat Guterres als Teil der Common Agenda das UN Youth Office gegründet. Ametepey sieht darin eine große Möglichkeit, weltweit das Engagement der Jugend zu koordinieren, zu finanzieren und zu stärken. Er regte zudem an, junge Menschen noch viel stärker in nationale und internationale SDG-Politikprozesse einzubeziehen.

Den Abschluss machte Imme Scholz, stellvertretende Vorsitzende des RNE und gab Einblicke in den nächsten globalen Nachhaltigkeitsbericht 2023, für den sie eine der Co-Herausgeberinnen ist: “Uns ist wichtig, dass besser verstanden wird, was mit Transformation gemeint ist. Wenn etwas Neues entstehen soll, beispielsweise ein erneuerbares Energiesystem, dann wird nicht nur das neue System aufsteigen, sondern es muss auch was anderes verschwinden. Das ist ein schmerzhafter Prozess, der mit viel Widerstand einhergeht – damit müssen wir aktiv arbeiten. Zudem haben wir keine Gleichzeitigkeit in der Wende, deshalb ist es nun umso wichtiger, dass sich mit der neuen Nachhaltigkeitsstrategie und in der Bundesregierung ein Regierungshandeln über Politikfelder hinweg und innerhalb der sechs großen Transformationsbereiche organisiert.”

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Empfehlungen & Stellungnahmen

Our Common Agenda - Momentum für einen inklusiven und vernetzten Multilateralismus für nachhaltige Entwicklung

Stellungnahme des Rates für Nachhaltige Entwicklung unter Mitarbeit von Dr. Marianne Beisheim (SWP) und Dr. Silke Weinlich (DIE); Berlin, 20.01.2022

Videomitschnitt des Panels