"Wir müssen Möglichkeitsräume öffnen"

50 Jahre „Grenzen des Wachstums”: Imme Scholz und Petra Künkel im Gespräch über das Beharrungsvermögen von Systemen, die Vitalität von Visionen und den Sinn der Sache.

Die Gesprächspartnerinnen:

Imme Scholz, stellvertretende Vorsitzende des Rates für Nachhaltige Entwicklung (RNE), ehemalige Direktorin des Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik (DIE), ab April Stiftungsvorständin der Heinrich-Böll-Stiftung

Petra Künkel, Mitglied im Internationalen Club of Rome, Gründerin und Leiterin des Collective Leadership Institute, Fachbuchautorin und strategische Beraterin zu globalen Transformationsprozessen

Es ist 50 Jahre her, dass die Studie „Die Grenzen des Wachstums” erschienen und weltweit für Aufsehen gesorgt hat. Zum Jubiläum hat Mitautor Dennis Meadows im Interview mit dem Magazin der Süddeutschen Zeitung ein recht hoffnungsloses Bild der menschlichen Zukunft gezeichnet. Ist es an der Zeit aufzugeben?

Petra Künkel: Manchmal fühlt es sich so an, als seien wir als Gesellschaft in eine kollektive Depression verfallen, nicht wahr? Und gerade darum ist es so interessant, dass Menschen, Mitglieder derselben Gesellschaft, sich gerade massiv für ukrainische Geflüchtete einsetzen. Weil sie die Möglichkeit sehen, etwas zu tun, etwas zu ändern. Und das macht uns erfinderisch, es inspiriert uns.

Imme Scholz: Sicherlich haben auch „Die Grenzen des Wachstums” in den vergangenen fünf Jahrzehnten viele Menschen inspiriert – auch wenn der Bekanntheitsgrad des Titels wahrscheinlich größer ist als die Zahl der Leute, die den Bericht tatsächlich gelesen haben. Denn in dem Bericht und in seinem 30 Jahre später erschienenen Update geht es nicht nur um Grenzen, sondern eben auch darum, wie sich die Menschheit auf bestimmte Begrenzungen verständigen kann – und damit ganz schnell um internationale Gerechtigkeit. Darum, wie man Wissen und Technologien teilt, damit alle Menschen erst mal auf ein gerechtes Niveau kommen. Und darum, wie wir wahrhaftig und ohne Manipulationen miteinander reden. Also um alles andere als ums Aufgeben.

Petra Künkel: Wir – auch Dennis Meadows in seinem Interview – sprechen oft von Resilienz im Sinne von Widerstandsfähigkeit. Ich finde es wichtig, den Begriff auch in Richtung Agilität und Anpassungsfähigkeit zu verstehen. Diese Vitalität ist wichtig, und Dennis Meadows’ 2001 verstorbene Mitautorin Donella Meadows war diejenige, die das in den Vordergrund gerückt hat. Ihre Vision ist die von einer Welt in Balance. Die Bedingungen, die sie gesetzt hat, sind sehr simpel: Erneuerbare Ressourcen sollten nicht schneller verbraucht werden, als sie nachwachsen können – simpel. Schadstoffe und Abfälle dürfen nicht schneller in die Umwelt gelangen, als die Umwelt sie wiederverwerten oder unschädlich machen kann – simpel. Nicht erneuerbare Ressourcen sollen gar nicht verwendet werden – simpel. Besonders wichtig ist die vierte Bedingung: Sie besagt, dass wir alles, was wir tun, bauen und produzieren, auf einem Niveau halten müssen, das es erlaubt, die ersten drei Bedingungen zu erfüllen. Ihr fünfter Punkt: All das ist nur möglich, wenn es Prozesse gibt, in denen demokratisch und vor allen Dingen gerecht verteilt wird. Diese Bedingungen sind keine Utopie, sondern technisch, strukturell und praktisch umsetzbar, wenn wir dies gemeinsam, über Institutionen und Länder hinweg einfach mal tun. Es gibt genügend Pionierbeispiele, an denen wir uns orientieren können: wie zum Beispiel aktuell den Entschluss der Vereinten Nationen, die Plastikkrise in der Welt zu lösen.

Imme Scholz: … diese Bedingungen von Donella Meadows hatte auch die Bundesregierung genutzt, um die Managementregeln für Nachhaltigkeitspolitik zu formulieren, in ihrer ersten, 2002 veröffentlichen Nachhaltigkeitsstrategie. Wichtig ist, sich zu vergegenwärtigen, dass der Bericht von 1972 den Wachstumsbegriff insofern kritisiert, dass er nicht mit Entwicklung gleichzusetzen ist. Viele Haushalte und eine Reihe von Ländern brauchen für ihre Entwicklung, ihr Wohlergehen einen materiellen Zuwachs. Nur sollte dieser materielle Zuwachs gerecht erfolgen und nicht auf Kosten der Umwelt, der Ökosysteme und künftiger Generationen gehen. Damit fordern die Autorinnen und Autoren der Studie eine wesentlich differenziertere Betrachtung und Diskussion ein. Da müssen wir auch 50 Jahre nach Veröffentlichung der Studie noch besser werden.

Wenn wir aber heute an die „Grenzen des Wachstums” denken, fällt den meisten Menschen erst mal ein, dass wir dabei sind, sie unumkehrbar zu überschreiten.

Petra Künkel: Die Vorhersagen haben sich leider bisher im Großen und Ganzen bestätigt. Nicht weil wir 50 Jahre lang geschlafen haben, viele Leute haben richtig etwas dagegen unternommen. Aber wir sind nicht gegen das Beharrungsvermögen der Systeme angekommen. Wir haben die Wende nicht geschafft. Um sie doch zu schaffen, ist es klar ganz wichtig, dass wir uns begrenzen. Aber genauso wichtig sind Möglichkeiten und Machbarkeiten. Diesen Möglichkeitssinn wieder reinzubringen, darum geht es jetzt. Wir müssen die Machbarkeit einer anderen Zukunft in den Vordergrund stellen.

Imme Scholz: Dabei hilft es, unsere Vorstellung von „Wann geht es mir gut?” zu überdenken: Dazu gehören auch die Qualität menschlicher Beziehungen oder die uns zur Verfügung stehende Zeit und die Möglichkeiten, diese in ganz unterschiedliche Aktivitäten fürs eigene und das gemeinsame Wohlbefinden zu „investieren”. Wir müssen Wohlstand neu definieren.

Petra Künkel: Das neoliberale Wirtschaftssystem ist ja aus einer guten Idee heraus entstanden: ein Wirtschaftsmodell haben zu wollen, das totalitäre Staaten durch das Primat globaler Märkte verunmöglicht. Aber wie immer, wenn auf Checks and Balances verzichtet wird, entstehen Dynamiken, denen man keinen Einhalt mehr gebieten kann. Heute sind wir zu Sklaven eines destruktiven Wirtschaftsmodells geworden und an dem Punkt, an dem das neoliberale Zukunftsmodell einfach ausgedient hat. Die Frage ist nun: Wie bauen wir es schnell genug um? Zentral dabei ist, dass der eigentliche Zweck von Wirtschaft, also Austauschbeziehungen und Handel zum Wohle aller, sich neu orientiert – an einem ökologischen und sozialen Lebenserhaltungssystem, das natürliche planetare Grenzen einhält. Auch dafür gibt es bereits zahlreiche Ansätze, die von Kreislaufwirtschaft, Gemeinwohl-Ökonomie, Doughnut-Ökonomie bis zu nachhaltigem Wirtschaften reichen. Die gilt es zusammenzubringen und auszubauen.

Und: Wer baut es um? Welche Verantwortung liegt beim Individuum, welche in einer zielgerichteten Ordnungspolitik?

Imme Scholz: Das greift zu kurz, es geht ja auch ganz massiv um öffentliche Infrastrukturen. Also: Welche Infrastrukturen haben wir, um eine Mobilität zu leben, die nicht auf das Auto angewiesen ist? In Europa sieht das noch ganz gut aus, aber es gibt ja viele Länder auf dem Planeten, in denen individuelle Mobilität ohne Auto sehr beschwerlich ist. Ähnliches gilt auch für soziale Infrastrukturen, die für alle zugänglich sein müssen, für den Bildungserwerb oder die Gesundheitsversorgung.

Petra Künkel: Die Frage, die wir stellen müssen, lautet: Wann verändern Menschen ihr Verhalten? Menschen verändern ihr Verhalten, wenn es ihnen gut geht mit dem, was sie nach der Änderung tun. Das kann etwas Materielles sein, aber für die meisten Menschen beinhaltet es beispielsweise auch ihre sozialen Beziehungen. Das heißt salopp ausgedrückt: Ich sehe einen Sinn in der Sache. Es bringt mich weiter. Ich entwickele mich. Ich habe neue Begegnungen. Diese Frage nach dem Sinn ist zentral für alles, was die Zukunft anbelangt: es geht darum, Sinn zu stiften. Wenn Menschen Möglichkeiten sehen, verändern sie ihr Verhalten. Wir brauchen Narrative, die die Leute in die Kraft bringen, sie umzusetzen.

Wie schaffen wir diese Möglichkeitsräume?

Imme Scholz: Da sind wir beim Verhältnis zwischen individueller und kollektiver Freiheit. Individuelle Entscheidungen beeinflussen auch die kollektiven Handlungsspielräume, aus der Sicht nachhaltiger Entwicklung insbesondere auch die zukünftiger Generationen. Was geschieht, wenn wir heute unsere Aufgaben – also Begrenzung des Klimawandels, die Verteidigung von Demokratie – nicht bewältigen? Dann schränkt das automatisch zukünftige Freiheiten ein, und zwar kollektive und individuelle. Aber das zu verstehen und entsprechend zu handeln, scheint unendlich schwierig zu sein und motiviert nur wenige. Deswegen brauchen wir Erzählungen, die uns glaubwürdig vor Augen führen, wie, warum und für wen wir das schaffen können.

Petra Künkel: Natürlich spielt die Politik auch eine wichtige Rolle. Ich greife mal ein Beispiel heraus: Fair Trade. Da hat natürlich, ohne dass das an die große Glocke gehängt wurde, die Bundesregierung stark eingegriffen und das gefördert. Diese politische Bewegung wäre ohne diese massive Unterstützung wohl kaum so erfolgreich gewesen. Hier sieht man, wie die Politik mit sinnvollen Strategien in Richtung Nachhaltigkeit lenken kann.

Imme Scholz: Wir brauchen mehr Forschung dazu, wie Transformationsprozesse gelingen können. Unser Wissenschaftssystem ist leider nicht so aufgebaut, dass es starke Schnittstellen zu Veränderungen von rechtlichen Rahmenbedingungen, von Anreizen hat. Gleichzeitig gibt es viele Kooperationen zwischen Privatunternehmen und Universitäten. Aber das sind oft parallele Welten. Deswegen ist eine gesellschaftliche Debatte zur Frage wichtig, welche Probleme von öffentlichen wie privaten Akteuren gelöst werden müssen. Das ist eine schwierige Frage, weil sie beinhaltet, dass Akteure ihre privaten Interessen auch so formulieren sollten, dass sie den öffentlichen nicht widersprechen.

Aus den Unternehmen ist häufig zu hören, dass eine Bereitschaft zur Veränderung besteht – vorausgesetzt, die Politik biete ihnen eindeutige und langfristige Planungsszenarien. Wie glaubwürdig ist das?

Imme Scholz: Solche Aussagen hören Sie ja in der Regel von großen Unternehmen, die in Strukturen produzieren, die eine lange Lebenszeit und Investitionszyklen haben und deren Veränderung daher lange im Voraus bedacht werden müssen. Da ist der Ruf nach Verlässlichkeit politischer Entscheidungen über die Zeit nachvollziehbar und glaubwürdig. Das kann man ja gerade bei der Energie-Diskussion verfolgen. Diese klare Aussage – „Ja, es wird ein Ende haben mit den fossilen Energien.” – hat man eben die letzten 16 Jahre so deutlich nicht bekommen. 16 Jahre sind eine sehr lange Zeit. Deswegen glaube ich, dass wir mit dieser Koalition eine andere Ausgangsbasis haben, schon weil das Wirtschaftsministerium, das Umweltministerium und das Agrarministerium sich zum Ziel gesetzt haben, jetzt gemeinsam diese Veränderungen zu erreichen.

Petra Künkel: Da sind wir wieder bei Donella Meadows. Wir brauchen die Demokratie auf dem Weg zur klimaneutralen Gesellschaft. Die Dominanzmodelle autoritärer Gesellschaften helfen uns nicht in eine Zukunft, die für alle funktioniert. Ich sage nicht, dass unsere Demokratie perfekt ist. Ich sage sogar, sie ist durch und durch verbesserungswürdig. Und wenn andere Leute eine bessere Demokratie erfinden, ist mir das auch recht – solange es Aushandlungsprozesse in der Gesellschaft gibt, Governance-Systeme, ethische Grundsätze wie die Freiheit der Meinungsäußerung und Checks and Balances für Machtstrukturen. Der Ausgleich zwischen individuellen Bedürfnissen und Gemeinwohl ist und bleibt eine gesellschaftliche und globale Daueraufgabe: nur dass wir derzeit das Gemeinwohl stärker in den Fokus rücken müssen. Die Energiewende, die wir in dramatischer Geschwindigkeit umsetzen müssen, ist ein Testlauf für die Zukunft. Gelingt sie dynamisch und dezentral, in Kooperation und Aushandlung, dann stärkt sie alle – Städte, Gemeinden, Unternehmen, Bürgerinnen und Bürger – und unsere Demokratie.