Bauwende unterwegs: Nachhaltig bauen mit Lehm

Ein neues Veranstaltungsformat lenkt den Blick auf Leuchtturmprojekte nachhaltiger Architektur überall in Deutschland. Erster Halt: Der Alnatura Campus in Darmstadt.

Von außen sieht das zwölf Meter hohe Bürogebäude im Gewerbegebiet am Stadtrand von Darmstadt eigentlich ganz unverdächtig aus. Doch sobald der Gast durch den Eingang tritt, macht sich Überraschung breit: 10.000 Quadratmeter offene Bürofläche auf drei Etagen bieten Platz für rund 400 Beschäftigte – praktisch ohne Trennwände, sieht man von einigen kleinen Konferenzräumen ab. Gleichwohl ist die Atmosphäre im tageslichtdurchfluteten Hause ruhig und konzentriert, auch dank der Lehmwände, die nicht nur Lärm schlucken, sondern vor allem auch das Gebäudeklima regulieren helfen.

Hier, auf dem vielfach ausgezeichneten „Alnatura Campus“, der 2019 eröffneten Zentrale der Biolebensmittelkette, hat das neue Veranstaltungsformat „Bauwende unterwegs“ am 22. Mai seine erste Station gemacht. Auf den Weg gebracht vom Rat für Nachhaltige Entwicklung (RNE) und der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen e.V. (DGNB) soll es in den nächsten Monaten auf nachhaltige Bauprojekte an verschiedenen Orten in Deutschland aufmerksam machen. Der Nachhaltigkeitsrat verstehe sich nicht nur als Thinktank der Regierung, sagte RNE-Generalsekretär Marc-Oliver Pahl zur Veranstaltungseröffnung in Darmstadt, sondern auch als „Do-Tank“: Die Bundesregierung habe den Rat explizit damit beauftragt, „nicht nur theoretische Ideen zu entwickeln, sondern raus ins Land zu gehen, mit den Leuten zu reden und Ideen aufzufangen und zu unterstützen“. Dabei hilft seit vergangenem Herbst das Gemeinschaftswerk Nachhaltigkeit, das, in Pahls Worten, zum Ziel hat, „auch Akteure, die sich vorher nicht in ihren alltäglichen Zirkeln getroffen hätten, zu gemeinsamen Projekten zusammenzubringen“. Der erste Schwerpunkt dieser von Bund und Ländern initiierten Plattform ist das Thema Nachhaltiges Bauen und Wohnen, und die „Bauwende unterwegs“-Reihe ein Teil davon.

Größtes Bürogebäude Europas mit Stampflehmfassade

Auf dem Alnatura Campus auf dem ehemaligen amerikanischen Kasernengelände der Kelley-Barracks sind eine Reihe zukunftsweisender Bau-Konzepte in die Praxis umgesetzt worden. So beherbergt der Campus das größte Bürogebäude in Europa, das mit einer Stampflehmfassade und integrierter geothermischer Wandheizung errichtet wurde. Lehm ist seit jeher einer der wichtigsten Baustoffe. Weltweit leben laut Dachverband Lehm etwa ein Drittel der Menschheit in Häusern aus Lehm, in Deutschland gibt es allerdings nur noch ungefähr zwei Millionen Gebäude, in denen Lehm verarbeitet wurde. Dabei schneidet der natürliche Baustoff in mehreren Nachhaltigkeitsdimensionen gut ab: Er kann vollständig recycelt werden, seine CO2-Bilanz fällt aufgrund des geringen Primärenergiebedarfs ebenfalls gut aus. Und Lehm sorgt durch seine Fähigkeit, Wasser aufzunehmen und bei Bedarf wieder abzugeben, für ein gutes Raumklima.

Für den 55.000 Quadratmeter großen Campus wurde das Gelände umfassend renaturiert: Versiegelte Flächen wurden aufgebrochen und das anfallende Material in den Freiflächen verbaut. Die Lehmwände enthalten nicht nur Lehm aus dem Westerwald und Lavaschotter aus der Eifel, sondern auch recyceltes Material aus dem Tunnelaushub des Mega-Bahnprojekts Stuttgart 21. Entworfen wurde das Gebäude vom Stuttgarter Architekturbüro Haas Cook Zemmrich STUDIO2050. Architekt Martin Haas betonte, wie hilfreich es war, dass der Bauherr, Alnatura-Chef Götz Rehn, entschieden hinter dem Projekt stand. Zu den Kosten äußert sich das Unternehmen nicht. „Wir erleben regelmäßig, dass wir in einer Gesellschaft leben, die sich sehr stark auf das Kriterium der Wirtschaft reduziert hat“, sagte Rehn. Beim Alnatura-Campus hätten andere Kriterien im Vordergrund gestanden: „Und trotzdem sind wir deutlich günstiger gewesen als ein konventioneller Bürobau.“

Eine Mischung aus Inspiration, Wissensvermittlung und Netzwerken

Im Anschluss lernten die Gäste bei parallelen Führungen das Gebäude genauer kennen und hatten die Möglichkeit, Fragen zu stellen. „Uns geht es darum, ganzheitlich nachhaltige Projekte physisch erlebbar zu machen“, sagte Mitveranstalterin Christine Lemaitre, Geschäftsführender Vorstand der DGNB. Ziel des Formats sei es, von Architekt*innen, Planenden und Nutzenden zu lernen: Was lief gut, wo gab es Herausforderungen? „Diese Mischung aus Inspiration, Wissensvermittlung und Netzwerken ist Kern der ‘Bauwende unterwegs’-Reihe“, sagte Lemaitre. Die Veranstaltung bei Alnatura sei ein idealer Auftakt für die neue Veranstaltungsreihe gewesen, die auf dem „DGNB unterwegs“-Format fuße, das der Verein bis zur Corona-Pause erfolgreich etabliert hatte.

Maria Ertl vom Hessischen Ministerium für Umwelt, Klimaschutz, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, eine der Teilnehmenden, sagte, dass im Rahmen der Umsetzung der Ressourcenschutzstrategie Hessen der Baubereich ein wichtiges Handlungsfeld sei. Das Hessische Umweltministerium unterstütze dies unter anderem mit dem Modellprojekt Rathaus Korbach. Bei diesem Projekt sei es darum gegangen, aus einem nicht mehr sanierungsfähigen Altbau möglichst viele Materialien und Baustoffe zurückzugewinnen und in die Neubauplanung zu integrieren – ein Weg, ressourcenschonender zu bauen. Beim Projekt Alnatura-Campus fand sie vor allem den gelungenen Einsatz von Lehmbauelementen spannend. Es habe sie sehr beeindruckt, dass sich der Bauherr entschlossen habe, die Unternehmensphilosophie tatsächlich auch auf das Unternehmen umhüllende Gebäude auszudehnen: „Das halte ich für vorbildlich.”

Die nächsten Stopps macht „Bauwende unterwegs“ in den kommenden Monaten am CUBE der Technischen Universität Dresden, an den Forschungshäusern “Einfach Bauen“ in Bad Aibling, am neuen Rathaus in Freiburg, am GIZ-Campus in Bonn und am Hotel Wilmina in Berlin.

 

 

Zur Reihe „Bauwende unterwegs“

Die Deutsche Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen (DGNB) und das vom Rat für Nachhaltige Entwicklung (RNE) koordinierte Gemeinschaftswerk Nachhaltigkeit bieten 2023 eine neue Eventreihe an. Unter dem Titel „Bauwende unterwegs“ finden monatlich gemeinsame Veranstaltungen statt, bei denen Interessierte Vorzeigeprojekte des nachhaltigen Bauens hautnah erleben können. Darüber hinaus geht es um die regionale Vernetzung von Akteuren der Bauwende – von Architektur über Bauwirtschaft und Handwerk zu Kommunen, Wissenschaft und Zivilgesellschaft. Mehr Informationen: www.gemeinschaftswerk-nachhaltigkeit.de