Nutzt oder schadet stationsunabhängiges Carsharing dem Nahverkehr?

Immer mehr Menschen melden sich bei Carsharing-Diensten an. Die Frage, ob das dem öffentlichen Nahverkehr nutzt und Mobilität insgesamt umweltschonender macht, wird intensiv debattiert. Studien deuten darauf hin, dass die im Stadtgebiet überall verfügbaren, stationsunabhängigen Free-Floating-Angebote den Nahverkehr in geringer Zahl Kunden kosten.
Anfang 2015 hat Carsharing die Marke von einer Million Nutzern in Deutschland geknackt. Der jüngste Jahresbericht des Bundesverbands Carsharing (BCS) liefert die Zahlen, die den Boom der Angebote belegen. 380.000 Nutzer waren Anfang 2015 bei sogenannten stationsbasierten Anbietern registriert, bei denen die Fahrzeuge an einem Ort fest gebucht und dort auch wieder abgegeben werden. Ein Plus von 18 Prozent in einem Jahr.
660.000 haben sich bei einem stationsunabhängigen Angebot, dem Free-Floating-Carsharing, eingetragen, bei denen die Fahrzeuge im Geschäftsgebiet spontan gebucht und an anderer Stelle wieder abgestellt werden. Dort gab es ein Plus von 51 Prozent binnen eines Jahres.
Allerdings sind die Zahlen mit Vorsicht zu genießen. Robert Follmer, Bereichsleiter Verkehrs- und Regionalforschung am infas, Institut für angewandte Sozialwissenschaft, untersucht gerade im Projekt Multimo im Auftrag von 13 Verkehrsunternehmen und -verbünden sowie weiteren Beteiligten das Free-Floating-Carsharing.

40 Prozent Karteileichen

Unter anderem kommt er zu dem Schluss, dass sich hinter der hohen Zahl registrierter Personen deutlich niedrigere Nutzerzahlen verbergen. So würden 40 Prozent der Angemeldeten die Fahrzeuge überhaupt nicht nutzen. Andere sind bei gleich zwei oder drei Anbietern Kunde und tauchen damit in der Statistik doppelt auf.
Ist Free-Floating-Carsharing nun nachhaltig, weil mehr Menschen auf ein eigenes Auto verzichten und auch häufiger das Rad oder den öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) nutzen? Hartmut Krietemeyer, stellvertretender Bereichsleiter Marketing/Tarif beim Münchner Verkehrs- und Tarifverbund MVV kommt zu gegenteiligen Ergebnissen: "Sämtliche uns vorliegenden aktuellen Forschungsergebnisse deuten darauf, hin, dass das Free-Floating-Carsharing – im Unterschied zur klassischen, stationsbasierten Variante – netto für Fahrtenverluste beim ÖPNV verantwortlich ist."
Krietemeyer stützt sich dabei auf eine ganze Reihe von Studien. In seinem neusten Jahresbericht geht der MVV auf Basis einer Studie von tns infratest von einem Einnahmeverlust von derzeit 4,9 Millionen Euro im Jahr aus, mittelfristig sogar 10 Millionen Euro – fast ausschließlich durch Free-Floating-Angebote. Krietemeyer verweist zudem auf eine Studie aus den Niederlanden. Demnach nutzen die Kunden von car2go in Amsterdam den ÖPNV 62 Prozent weniger als vor der Einführung.

Bequemlichkeitsmobilität

Auch die Beratungsfirma civity Management Consultants hat in ihrer nicht frei verfügbaren Studie „Urbane Mobilität im Umbruch“ das Phänomen untersucht und dabei auf einen Datensatz von weltweit 18 Millionen Anmietungen beim Free-Floating-Carsharing zurückgegriffen. Die Ergebnisse sind ernüchternd: „Bequemlichkeitsmobilität“ werden die Angebote dort genannt. Sie ersetzten vor allem Fahrten auf kurzen Strecken mit dem Fahrrad, dem öffentlichen Nahverkehr und Taxen.
Free-Floating-Wagen seien „nahezu so ineffizient und flächenintensiv wie ein privater PKW“. Der Grund: Die Fahrzeuge werden, etwa in Berlin, im Schnitt nur 62 Minuten am Tag genutzt, sonst stünden sie „unproduktiv im Straßenraum“. Als Anbieter kämen wegen der großen ökonomischen Risiken nur Großkonzerne in Betracht, darauf verweist auch der BCS in seinem Jahresbericht – der eigenständige Anbieter Spotcar etwa hat in Berlin nach einem Dreivierteljahr im Mai 2015 das Handtuch geworfen.
civity schreibt zudem, dass die tatsächlich mit Free-Floating-Angeboten zurückgelegten Wegstrecken so gering seien, dass sie „keine nennenswerte Relevanz“ in Ballungsräumen entfalten würden. Damit relativiert sich auch die Konkurrenzsituation mit dem ÖPNV. Beispiel München: Der MVV nahm im Jahr 2014 774 Millionen Euro ein – der Verlust durch das Free-Floating-Carsharing beläuft sich also auf weniger als ein Prozent.
Ähnlich sieht das auch Robert Follmer vom infas. „Aus meiner Sicht ist das Free-Floating Carsharing keine Gefahr für den öffentlichen Nahverkehr, dafür wird es viel zu selten in Anspruch genommen“, sagt er. Noch liegen zwar keine endgültigen Ergebnisse seiner Studie vor, aber nach 2.000 Teilnehmern kann Follmer bereits dieses Zwischenfazit ziehen.

Neues Mobilitätsverhalten

Richtig sei zwar, dass Free-Floating-Carsharer hin und wieder ein Auto statt der U-Bahn nutzen und damit dem ÖPNV potentiell Fahrten streitig machten, so Follmer. Allerdings veränderten die Angebote auch das Mobilitätsverhalten insgesamt, so dass manche auf einen Zweitwagen verzichten – und ihn durch eine Kombination aus Carsharing und Nahverkehr ersetzen.
Dieses veränderte Verhalten ist allerdings methodisch schwer zu erfassen – in der infas-Studie werden deshalb nicht nur einzelne Fahrten erfasst, die Teilnehmer zeichnen mit einer App und einem online-Tagebuch über zwei Wochen auch ihr Mobilitätsverhalten insgesamt auf.
Abgesehen davon gilt es, Free-Floating- von stationsgebundenem Carsharing zu unterscheiden, denn bei letzterem fällt die Bilanz meist deutlich positiver aus. Follmers Fazit: „Meine strategische Empfehlung an die Nahverkehrsbetriebe ist: Sie sollten die Free-Floater in den Verkehrsverbund einbinden, dann nutzt es allen. Warum soll man nicht mit einem Tagesticket der Berliner BVG auch Carsharing nutzen können?“

Weiterführende Informationen

Jahresbericht Bundesverband Carsharing
Webseite Multimo-Studie, noch nicht abgeschlossen
Jahresbericht MVV München [pdf, 3,4 MB] Civity-Studie „Urbane Mobilität im Umbruch“