„Niemand sollte glauben, nachhaltige Entwicklung bedeutet ein ruhiges Leben“ – Interview mit Derek Osborn, Präsident des Stakeholder Forums

Das Stakeholder Forum und der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss haben in einer Studie untersucht, wie die neuen Globalen Nachhaltigkeitsziele der UN in Europa umgesetzt werden können. Derek Osborn, Mitautor der Studie, erklärt im Interview, wie gewaltig die Aufgabe ist – und wie viel Mut ihm die Zivilgesellschaft dabei macht.
Herr Osborn, wenn die nachhaltige Entwicklung Europas ein Marathon wäre, wie weit wären wir dann?
Derek Osborn: Wenn man einen Marathon fertig läuft, muss man für den nächsten trainieren. Nachhaltige Entwicklung wird in diesem Sinne nie komplett erreicht werden. Das Streben nach Nachhaltigkeit ist eine unendliche Reise. Wir werden das für immer weiterverfolgen müssen.
Klingt schwer.
Am praktischsten ist es darüber nachzudenken, was zur jeweiligen Zeit die am wenigsten nachhaltigen Elemente sind. Wenn wir die ändern, machen wir das jeweils Beste. Ich bin beeindruckt von der deutschen Energiewende: Eine große gesellschaftliche Aufgabe, die eine der großen Nachhaltigkeitsthemen unserer Zeit anpackt. Die Erfolge auf diesem Marathon sollte Deutschland in gute Form bringen für das nächste Rennen, das zweifellos folgen wird.
Sie schreiben, dass nachhaltige Entwicklung eine starke Koordination braucht, von der Regierung hinab zu den Kommunen. Jede Entscheidung solle mit nachhaltiger Entwicklung verbunden sein. Wie soll das gehen?
Zunächst gilt es, sich auf die wichtigsten Akteure zu konzentrieren. In unserer Studie haben wir uns verschiedene Länder angeschaut. In Deutschland hat der Rat für Nachhaltige Entwicklung eine wichtige Rolle gespielt, um die entscheidenden Akteure der Gesellschaft zu beteiligen und einen integrierten Ansatz nachhaltiger Entwicklung voranzubringen. Das könnte beispielhaft für andere Länder sein.
Die EU wird oft wegen ihrer Intransparenz kritisiert. Was braucht es, um den Eindruck zu vermeiden, nachhaltige Entwicklung sei nur ein Regelwerk aus Brüssel?
Nachhaltige Entwicklung fängt zu Hause an. Nach dem Gipfel zu den globalen Nachhaltigkeitszielen (SDGs) Ende September in New York müssen die Regierungschefs in ihren Ländern eine klare Führungsrolle einnehmen, neue Strategien zur Umsetzung der Ziele entwickeln und alle Teile der Gesellschaft dabei integrieren.
Was erwarten Sie von Brüssel?
Sicherlich gibt es auch Anstrengungen für nachhaltige Entwicklung auf europäischer Ebene, die wir besser abstimmen und bündeln müssen. Beispielsweise muss die Energiepolitik dringend besser koordiniert werden. Das ist schwer, weil jedes Land neidvoll seine Macht im Energiesektor verteidigt und sich dagegen sträubt, Kompetenzen nach Brüssel abzugeben. Aber wir könnten eine nachhaltigere Energiepolitik bekommen, wenn wir nur mehr europäischen Einfluss erlauben würden.
Und neben der Energiepolitik?
Wir brauchen in vielen Sektoren nachhaltigere Produktionsstandards. Die könnten wir europäisch harmonisieren und große Fortschritte erzielen. Das wäre besser, als mit konkurrierenden nationalen Regeln Handelsbarrieren aufzubauen. In Sachen nachhaltiger Bildung müssen ganz klar die nationalen Regierungen vorangehen, hier könnte Brüssel aber durchaus eine nützliche Rolle spielen, in dem es die europäischen Länder dazu ermutigt, Ideen auszutauschen und voneinander zu lernen. Die EU kann also eine Menge tun. Und es wäre nützlich, eine neue Europäische Nachhaltigkeitsstrategie zu formulieren, um all das zu bündeln und ein politisches Momentum aufzubauen.
Reicht das oder müssen die Europäischen Verträge für eine echte nachhaltige Entwicklung überarbeitet werden?
Wir brauchen natürlich mehr Gesetzgebung auf europäischer Ebene, um etwa die Kreislaufwirtschaft voran zu bringen. Aber in einem übergreifenden Sinne sind die Verträge sehr klar in ihrer Unterstützung einer nachhaltigen Entwicklung als Basis der EU. In Artikel 2 des Vertrages von Lissabon heißt es beispielsweise: “Sie wirkt auf die nachhaltige Entwicklung Europas auf der Grundlage eines ausgewogenen Wirtschaftswachstums und von Preisstabilität, eine in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt, sowie ein hohes Maß an Umweltschutz und Verbesserung der Umweltqualität hin.“ Das ist eine gute Formulierung und ich glaube nicht, dass wir weitere Vertragsnovellen brauchen. Wir müssen das nur effektiver umsetzen.
Sie sprechen viel darüber, dass nachhaltige Entwicklung zwischen Akteuren vermittelt werden muss. Was aber ist mit echten Konflikten?
Die wird es natürlich geben. Deshalb brauchen wir eine allgemeine Vereinbarung, in welche Richtung wir uns entwickeln wollen, dann können wir die Konflikte positiv lösen. Die wird es etwa in der Produktion geben. Es wird Gewinner und Verlierer geben. Einige ältere Industrien mit nicht nachhaltiger Produktionsweise oder nicht nachhaltigen Produkten müssen sich umstellen oder sie werden untergehen. Andere mit saubereren und effizienteren Produkten werden florieren. Wollen wir die SDGs binnen 15 Jahren umsetzen, könnte das bedeuten, diesen Übergang und damit die unvermeidbaren Konflikte zu beschleunigen. Schauen Sie sich nur die Kämpfe um die Kohle an, dann können Sie sich ausmalen, welche Konflikte noch vor uns liegen. Niemand sollte glauben, dass die Wahl einer nachhaltigen Entwicklung ein ruhiges Leben bedeutet. Vielmehr bedeutet das, den Prozess der „schöpferischen Zerstörung“ zu beschleunigen, den Schumpeter als Motor des Fortschritts ausgemacht hat.
Sie schreiben, dass in der “stumpfsinnigen Eintönigkeit” von UN Generalversammlungen jeder Sprecher auf seiner unveränderten und einstudierten Position verharre. Da könne man die Tiefen der Verzweiflung darüber ausloten, ob es jemals echten Fortschritt in Sachen nachhaltiger Entwicklung gebe.
Das stimmt. Aber ich schreibe danach: Hoffnung kommt auf, wenn man den echten Fortschritt betrachtet, den lokale Gemeinschaften, die Zivilgesellschaft, Unternehmen und alle möglichen sonstigen Akteure in Sachen nachhaltiger Entwicklung erzielen. Diplomaten wiederholen die immer alten Positionen. Aber wenn die Zivilgesellschaft vor der UN demonstriert und eigene Veranstaltungen organisiert, dann passiert etwas. Auf nationaler Ebene ist es das Gleiche. Druck und Aktionen der Zivilgesellschaft treiben Regierungen zum Handeln. Deshalb sind Institutionen wie der Rat für Nachhaltige Entwicklung wichtig, weil er die Akteure zusammenbringt und Aktionen für mehr Nachhaltigkeit in der gesamten Gesellschaft voranbringt.
Was ist ihr Ausblick für 2030?
In der Erklärung zu den Globalen Nachhaltigkeitszielen, die im September verabschiedet werden, heißt es: Wir können die erste Generation sein, die Armut beendet und wir könnten die letzte sein, die eine Chance hat, den Planeten zu retten. Der Einsatz könnte nicht höher sein. Die Millennium Entwicklungsziele haben bereits einen großen Fortschritt bei der Armutsbekämpfung gebracht. In den nächsten 15 Jahren brauchen wir aber einen breiteren Ansatz in allen Ländern der Welt, der das Ende der Armut mit weltweiten Maßnahmen zum Umweltschutz verbindet. Beides hängt zusammen. Das macht eine globale nachhaltige Entwicklung wichtiger als je zuvor. Wir haben das Wissen und die technischen Fähigkeiten – jetzt müssen wir nur die Ernte einfahren.
Das Interview führte Ingo Arzt.

Weiterführende Informationen

Studie Building the Europe we want
Kurzbiografie von Derek Osborn
Vertrag von Lissabon, Nachhaltigkeit in Artikel 2
Sustainable Development Summit der UN im September