„Markt ist auch eine Form von Verbraucherschutz“ – Interview mit dem Ökonomen Henning Vöpel

In dieser Woche trafen sich Vertreter der EU-Kommission und der USA zur sechsten Runde der Verhandlungen um eine Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP). Zahlreiche Menschen befürchten niedrigere Standards für Bürger und Umwelt. Zu den Vorteilen ein Interview mit Professor Henning Vöpel vom Hamburgischen Weltwirtschaftsinstitut (HWWI).
Herr Vöpel, Umwelt- und Sozialstandards sind aus Sicht internationaler Unternehmen vor allem Handelshemmnisse, die Abkommen wie TTIP beseitigen sollen. Peter Fuchs, Geschäftsführer von PowerShift, hat deshalb vor Kurzem im Interview mit News Nachhaltigkeit gesagt: „Freihandel kann nicht nachhaltig sein, das ist ein Widerspruch in sich.“ Geben Sie ihm recht?
So pauschal kann man das nicht bestätigen. Grundsätzlich geht es bei Handelsabkommen darum, Zölle und nicht-tarifäre Handelshemmnisse abzubauen – also alles, was den Wettbewerb und den freien Austausch von Kapital und Waren beschränkt. Die Idee ist, dass durch den Abbau von Protektionismus ein größerer Markt entsteht, was im Endeffekt dem Verbraucher zu Gute kommen soll. Durch mehr Wettbewerb gibt es eine größere Produktvielfalt und niedrigere Preise. Der Hauptkonflikt bei TTIP und der Liberalisierung von Handel allgemein ist daher: Stellen Normen und Standards nicht-tarifäre Handelshemmnisse dar oder sind sie Ausdruck nationaler Präferenzen der Konsumenten?
Das klingt so, als gehe es um bloße Geschmacksfragen. Die Bürger sorgen sich aber doch unter anderem um den ganz elementaren Schutz ihrer Gesundheit. Europäische Staaten verbieten beispielsweise die Aufzucht von Rindern mit Hormonen, weil einige dieser Stoffe unter Krebsverdacht stehen. Die Vereinigten Staaten stehen da eher auf der Seite der Lebensmittelindustrie. Wie kann die EU ihr strengeres Vorsorgeprinzip erhalten?
Das ist ein gutes Beispiel für unterschiedliche nationale Präferenzen der Konsumenten. Wir wollen als Verbraucher keine Hormone im Fleisch. In Europa haben die Bürger hierüber andere Vorstellungen als die Amerikaner. Insofern geht es in diesem Fall nicht um Handelshemmnisse, die wir abbauen wollen, sondern um Präferenzen, die wir erhalten und schützen müssen. Nun stellt sich die Frage, wie man das macht. Man kann Ausnahmeregelungen aushandeln oder die Transparenz erhöhen. Man könnte also eine Kennzeichnungspflicht einführen, wie das bei anderen Gütern auch der Fall ist.
Im Lebensmittelbereich gibt es bereits etwa 1000 Siegel. Würden die Verbraucher zusätzliche Kennzeichnungen nicht einfach überlesen, sodass die umstrittenen Produkte letztlich frei in den Markt kommen?
Das passiert natürlich vielfach. Ausnahmeregeln sind übrigens auch in der Industrie unbeliebt, weil sie den bürokratischen Aufwand, den die Unternehmen eigentlich gerne verringern wollen, wieder erhöhen. Ich glaube, dass die Betonung des Vorsorgeprinzips sehr berechtigt ist. Es stellt sich allerdings die Frage – und das ist ein fundamentaler Unterschied zwischen Europa und den USA-, wer darüber entscheidet, was dem Konsumenten nutzt und wovor er zu schützen ist. Ist es eine Behörde, die festlegt, was für die Konsumenten unbedenklich ist, oder überlassen wir es dem Markt, Präferenzen der Konsumenten zu offenbaren? Wettbewerbliche Märkte sind auch eine Form von Verbraucherschutz. Daneben glaube ich, dass die Sichtweise der Europäer ein wenig einseitig ist. In vielen anderen Bereichen als dem Nahrungsmittelsektor haben die USA sehr viel weiter gehende Bestimmungen als die Europäer, und das übersehen die Europäer. Sie ignorieren gerne, was die Amerikaner möglicherweise aufgeben müssen oder was die Vorteile des Abkommens sind.
Die Vorteile klingen allerdings eher bescheiden. Nach einer Studie des ifo Institutes für die Bertelsmann-Stiftung würde die Arbeitslosenquote in Deutschland durch TTIP von 6,5 auf 6 Prozent zurückgehen, die Löhne könnten um zwei Prozent steigen. Warum sollte Deutschland dafür niedrigere Sozial- und Umweltstandards in Kauf nehmen?
Die Arbeitslosigkeit von 6,5 auf 6 Prozent zu drücken, ist eine ganze Menge. Denn wir haben derzeit nahezu Vollbeschäftigung. Natürlich würde TTIP auch und gerade den Wettbewerb in Bereichen erhöhen, die bislang durch Sozial- und Umweltstandards geschützt waren. Ein Rückgang der Arbeitslosigkeit sollte nicht über ein „race to the bottom“ bei diesen Standards erstritten werden.
Welche Branchen sind aus Ihrer Sicht die Gewinner und Verlierer von TTIP?
Grundsätzlich werden Verlierer diejenigen Branchen sein, die Normen und Standards genutzt haben, um sich vor Wettbewerb zu schützen. Gewinner sind entsprechend solche, die nun die Chancen haben, ihre Produkte auf einem größeren Markt anzubieten. Zum Beispiel kann die Medizintechnik von TTIP profitieren. Umgekehrt wird der Agrarsektor in Europa wahrscheinlich Marktanteile verlieren, weil die Bestimmungen in der Nahrungsmittelindustrie in Europa bislang strenger sind.
Die EU verhandelt nicht nur mit den USA ein Freihandelsabkommen, sondern auch mit Indien und afrikanischen Entwicklungsländern. In armen Staaten wie Kamerun hat die EU in der Vergangenheit ihren Marktzugang ausgenutzt und mit subventionierten Landwirtschaftsprodukten wie Geflügelteilen lokale Märkte zerstört. So nachvollziehbar die aktuellen Ängste der europäischen Bürger vor TTIP sind: Sitzen die wahren Verlierer des Freihandels nicht in den Entwicklungsländern?
Freihandel hieße ja gerade, dass man Subventionen nicht zulässt, also gleiche Wettbewerbsbedingungen auf einem gemeinsamen Markt schafft. Insofern kann ein Freihandelsabkommen die Märkte in Entwicklungsländern sogar schützen.
Entwicklungshilfeorganisationen kennen zahlreiche Gegenbeispiele. Oxfam kümmert sich derzeit um Straßenhändler in Indien, weil das Freihandelsabkommen mit der EU es europäischen Supermarktketten erlauben würde, dort massenweise Filialen zu eröffnen. Das würde viele Straßenhändler in den Ruin treiben. Leiden würde also die lokale Bevölkerung.
Ja, zumindest ein Teil der Bevölkerung. Aus der Handelstheorie wissen wir, dass Handel insgesamt den Wohlstand erhöht, er erzeugt aber Gewinner und Verlierer. Daher ist es wichtig, dass nicht Lobbyisten vorher verhandeln, wer Gewinner und Verlierer sind. Es ist an der Regierung, die Wohlfahrtsgewinne sozialverträglich umzuverteilen.

Weiterführende Informationen

Informationen der EU-Kommission zu TTIP


Transparenzseite des Bundeswirtschaftsministeriums zu den Verhandlungen


Übersicht bestehender Handelsabkommen mit der EU


Liste laufender Verhandlungen zu Handelsabkommen [PDF, 553 kB]

Studie des ifo-Institutes für die Bertelsmann-Stiftung [PDF, 4 MB]

Position von Oxfam zum Freihandel

Position von PowerShift