Hausaufgaben für die nächste Regierung: Fluchtursachen bekämpfen

Was tun gegen weltweit zunehmende Flucht und Vertreibung? Die Fachkommission Fluchtursachen hat der kommenden Bundesregierung konkrete Vorschläge formuliert.

Es ist ein trauriger Rekord, den das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen UNHCR im Juni präsentierte: Noch nie waren so viele Menschen weltweit auf der Flucht. 82,4 Millionen sind es, eine Verdopplung binnen zehn Jahren. Fast so viele Menschen, wie Deutschland Einwohner hat. 48 Millionen davon sind Binnenflüchtlinge. Am stärksten betroffen sind Menschen aus Syrien, Venezuela, Afghanistan, dem Südsudan und Myanmar.

Hinter den Zahlen stehen „menschliche Katastrophen“, eine fundamentale Zäsur im Leben der Betroffenen, heißt es im Abschlussbericht der unabhängigen „Fachkommission Fluchtursachen“, die ihre Arbeit im Mai an die Bundesregierung übergeben hat. Eineinhalb Jahre arbeiteten die 24 Expertinnen und Experten aus Wirtschaft, Wissenschaft, Nichtregierungsorganisationen und internationalen Organisationen an Empfehlungen, wie Deutschland Ursachen für Flucht und Vertreibung bekämpfen kann. „Es geht dabei nicht nur um Entwicklungspolitik, sondern auch um ambitionierteren Klimaschutz, eine faire Handelspolitik und eine restriktive Rüstungspolitik“, sagt Cornelia Füllkrug-Weitzel. Die ehemalige Präsidentin von Brot für die Welt ist Mitglied im Rat für Nachhaltige Entwicklung und war eines der Mitglieder der Kommission.

Gründe, warum Menschen gezwungen sind, ihre Heimat zu verlassen, gibt es viele: Kriege und Konflikte, Armut, Versagen von Regierungen, verstärkt durch den Klimawandel und Bevölkerungswachstum. Hinzu kommen aktuell die Folgen der Corona-Pandemie. „So lange strukturelle Ursachen wie soziale Ungleichheit, fehlende Einkommensmöglichkeiten, fehlende soziale Absicherung, politische Verfolgung, Unterdrückung und Gewalt bestimmend sind, werden sich Menschen auf den Weg machen“, so Bärbel Dieckmann, ehemalige Präsidenten der Welthungerhilfe und eine der beiden Vorsitzenden der Kommission, bei der Vorstellung des Berichts im Mai in Berlin. Die große Mehrheit der Menschen verlasse nicht freiwillig ihre Heimat. Der Bericht betont deshalb auch die Rolle der SDGs. Der beste Schutz vor Flucht sei die Umsetzung dieser globalen Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen, sagte Dieckmann. „Wir müssen die Sicherheit herstellen, die durch die SDGs sehr klar formuliert worden ist“, ergänzte sie: „Das würde die Flüchtlingszahlen massiv reduzieren.“

Fehlende Risikoanalysen in der Politik

Eine eindeutige Hierarchie dieser Fluchtursachen gebe es nicht, heißt es in dem Bericht. Meistens spielten viele Faktoren gleichzeitig eine Rolle. Maßnahmen, die sich nur auf einzelne Ursachen von Flucht fokussieren, lehnt die Kommission deshalb ab. Genau das geschieht aber offenbar noch viel zu häufig. „Auf eine Abstimmung innerhalb der Regierung durch die Ressorts legen wir besonders großen Wert“, erklärt Gerda Hasselfeldt, Präsidentin des Deutschen Roten Kreuzes, Ko-Vorsitzende der Kommission und Mitglied im Rat für Nachhaltige Entwicklung. Deutschland müsse insgesamt seine Strategiefähigkeit verbessern, so der Bericht. Dazu solle ein „Rat für Frieden, Sicherheit und Entwicklung“ gegründet werden, in dem die Ressorts Auswärtiges, Inneres, Verteidigung, Justiz, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Wirtschaft und Energie, Ernährung und Landwirtschaft sowie Umwelt vertreten sind.

„Derzeit gibt es noch zu wenig gemeinsame Risikoanalyse und strategische Politiksteuerung für Krisengebiete zwischen den Ministerien. Es muss doch möglich sein, dass ein Land wie Deutschland frühzeitig Analysen besitzt, um politische Risiken in verschiedenen Regionen der Welt vorherzusehen und rechtzeitig entschieden entgegenzuwirken“, sagt Füllkrug-Weitzel, die seit über 20 Jahren in ihrer täglichen Arbeit mit Flucht und Vertreibung konfrontiert ist. Der neue Rat für Frieden, Sicherheit und Entwicklung soll auch das umfassende Wissen unabhängiger Organisationen und der Zivilgesellschaft systematisch mit in seine Analysen einbeziehen, fordern die Autorinnen und Autoren des Berichts.

Milliarden Menschen ohne soziale Sicherung

Insgesamt sind Krisenfrüherkennung sowohl in Brüssel auf EU-Ebene als auch in Berlin nur unzureichend an politische Entscheidungsprozesse gekoppelt, heißt es weiter. 15 Konkrete Empfehlungen sind in dem Bericht formuliert, vier werden als zentral für die neue Bundesregierung hervorgehoben. Neben dem bereits erwähnten Rat soll die persönliche Situation der Menschen in ihren Herkunftsländern verbessert werden. Eine vorgeschlagene Maßnahme: Die Bundesregierung solle einen neuen Mechanismus entwickeln, um den Ausbau erneuerbarer Energien in Entwicklungsländern zu beschleunigen. Ein weiteres Element ist der weltweite Ausbau sozialer Sicherungssysteme. 55 Prozent der Weltbevölkerung haben im Fall von Krankheit, Unfall, Arbeitslosigkeit oder Pflegebedürftigkeit keinerlei Absicherung – und das sei besonders in Zeiten zunehmender globaler Schocks, wie der Finanz-, Klima- oder Coronakrise, ein Problem, sagt Füllkrug-Weitzel. „Es muss sichergestellt werden, dass das Überleben aller Menschen grundsätzlich abgesichert ist, sie Zugang zu sozialen Dienstleistungen haben, sowie auskömmliche Einnahmen, um ihre Familien ernähren zu können“, sagt Füllkrug-Weitzel.

Ein weiterer, zentraler Punkt des Berichts ist die Forderung nach einer globalen Allianz für „Resettlement“, insbesondere für Frauen, Kinder und Opfer sexueller Gewalt. Resettlement, auf Deutsch etwa „Neuansiedlung“, bedeutet, dass vom UNHCR offiziell anerkannte Flüchtlinge von einem Erstaufnahmeland dauerhaft in ein anderes Land umsiedeln dürfen. Nötig ist das, weil 73 Prozent der geflüchteten Menschen weltweit in ihren unmittelbaren Nachbarländern verharren, oft selbst Entwicklungsländer. Laut UNHCR konnten 2019 , also vor der Pandemie, nur 63.969 Geflüchtete umgesiedelt werden. Der Bedarf liege für 2022 allerdings bei 1,47 Millionen. Deutschland nahm 2020 über das Programm 5.500 Menschen auf. Die Kommission fordert, dass sich Deutschland für eine Allianz einsetzt, die deutlich mehr Geflüchteten eine Umsiedlung ermöglicht. Jedes dieser Länder solle jährlich eine Anzahl von Menschen aufnehmen, die 0,05 Prozent der eigenen Bevölkerung entspricht. „Das ist nicht besonders ambitioniert, aber es wäre angesichts der global rückläufigen Zahlen der letzten Jahre ein großer Schritt in die richtige Richtung“, sagt Füllkrug-Weitzel.

Migrationsdruck wegen Klimawandel

Als vierten zentralen Punkt schlägt die Kommission vor, Aufnahmeländer von Geflüchteten und Migranten längerfristig und planbar durch neue, mehrjährige Pakte zu unterstützten. Und zwar „mit dem Ziel, Weiterwanderung zu verhindern und, dass die Flüchtlinge nach spätestens zehn Jahren keine öffentliche Hilfe mehr brauchen“, so Gerda Hasselfeldt.

Die Zahl der Geflüchteten werde sich in den kommenden Jahren erhöhen, da der Migrationsdruck aufgrund des Klimawandels weiter zunehme, sagt Füllkrug-Weitzel. Auch die Pandemie werde sich auswirken, sobald die Grenzen wieder geöffnet sind: Corona hat zusätzlich 150 Millionen mehr Menschen in Armut gestürzt. Die verschlechterten Lebensumstände in den Entwicklungsländern werden in ein, zwei Jahren mehr Menschen zur Migration bewegen.

Da sich die Fertigstellung des Berichts durch die Pandemie verzögert hat, wird sich die nächste Bundesregierung mit einer möglichen Umsetzung beschäftigen müssen, sagt Füllkrug-Weitzel. „Wir haben sehr viel Arbeit reingesteckt. Die Expertinnen und Experten kamen aus unterschiedlichsten politischen Richtungen und Erfahrungshintergründen. Wenn man dann einen solch klaren Bericht einstimmig beschließt, dann gibt das den Empfehlungen Dringlichkeit und Gewicht“, sagt sie. Die Kommission jedenfalls werde ihre Arbeit nicht ruhen lassen, sondern die neue Regierungskoalition drängen, Lehren aus dem Bericht zu ziehen.