„Es gibt sanfte Wege, die Entwicklungsziele am Ende auch durchzusetzen“ – Interview mit Serge Kapto, UN-Datenexperte für nachhaltige Entwicklung

Ende März kamen in New York Vertreter der 193 UN-Staaten zusammen, um bereits zum dritten Mal in diesem Jahr über die neuen, nachhaltigen Entwicklungsziele bis 2030 zu verhandeln. Dabei ging es auch um die wichtige Frage, anhand welcher Indikatoren Erfolge oder Misserfolge hinsichtlich der Erreichung dieser neuen Ziele statistisch erfasst werden sollen. Serge Kapto, Datenexperte für nachhaltige Entwicklung beim Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen, erklärt im Interview, wie schwer es wird, 169 Entwicklungsziele weltweit zu messen.

Die Vereinten Nationen rufen zu einer weltweiten Datenrevolution auf, um Entwicklungsziele besser zu erfassen. Was heißt das für die Statistiken, die es bisher zu den Millennium-Entwicklungszielen gibt? Welche davon sind Messungen und was sind Schätzungen?

Serge Kapto: Es ist wahr, dass die Fähigkeiten vieler Entwicklungsländer, wichtige Daten zu erfassen, bisher eher schwach sind. Das ändert sich aber. Entwicklungsorganisationen und Industrieländer unterstützen diese Staaten und verbessern die Qualität der Daten. Das ist einer der großen Erfolge der MDGs, der Millenniumsentwicklungsziele. 2012 hat die United Nations Statistics Commission in einer Erhebung gezeigt, dass 106 Länder ihren Entwicklungsstand anhand von 20 verschiedenen Indikatoren erheben. Zehn Jahre zuvor war kein einziges Land so weit. Aber es gibt trotzdem noch eine Menge Arbeit.

Wie konnte dann überhaupt der Erfolg der MDGs gemessen werden, wenn es zu Beginn keine Daten gab?

Zugegeben, es gibt Lücken in den Daten. Aber wenn Sie sich die vorhandenen Daten anschauen, dann können Sie einen klaren, positiven Trend erkennen.

Die neuen, nachhaltigen Entwicklungsziele, die Sustainable Development Goals oder SDGs, sind wesentlich komplexer. Derzeit sind 17 Ziele und 169 Unterziele geplant, deren Erreichung oder Nicht-Erreichung weltweit erfasst werden muss. Das klingt nach viel Arbeit für Statistiker.

Die Aufgabe ist gewaltig. Die Statistics Commission hat in ihrem ersten Entwurf 304 Indikatoren benannt, um die Ziele zu erfassen. Früher, bei den MDGs, waren es 60. Die Daten zu erfassen wird nicht nur für die Entwicklungsländer schwer, sondern auch für die Industrieländer. Bei den jüngsten Verhandlungen zeichnete sich ab, dass es Indikatoren geben wird, die weltweit erfasst werden, es wird regionale, nationale und vielleicht sogar subnationale Indikatoren geben – beispielsweise müssen im Zug der Urbanisierung in Städten andere Dinge erfasst werden als auf dem Land. Die neuen Entwicklungsziele zu messen wird sehr komplex, momentan gibt es mehr Fragen als Antworten. Aber die UN-Staaten haben Ende März in New York eine Roadmap verabschiedet, nach der die Indikatoren bis März 2016 verabschieden werden sollen.

Was wird es denn für Indikatoren geben?

Das ist noch nicht entschieden. Was sich abzeichnet ist, dass die Länder eine gewisse Flexibilität haben werden, was sie messen. Nationale Indikatoren werden auf jeden Fall in der Verantwortung der einzelnen Staaten liegen. Von denen müssen auch die Daten kommen.

Haben Sie ein Beispiel für einen Indikator? Vielleicht zunächst einen, der leicht zu erfassen ist.

Nehmen wir das erste Entwicklungsziel, das Ende der Armut. Da gibt es einen Indikator, „Anteil der Bevölkerung, die unter der nationalen Armutsgrenze lebt, aufgeteilt nach Geschlecht und Altersgruppe“. Das ist bereits für die MDGs erfasst worden, es gibt viel Expertise und Daten dazu, deshalb ist dieser Indikator mit AAA gewertet – also sehr leicht umzusetzen. Die schlechteste Wertung wäre CCC. Auch wenn es von Land zu Land unterschiedlich ist, wo die Armutsgrenze liegt.

Was wäre ein schwer zu messender Indikator?

Da finden sich einige bei Entwicklungsziel Nummer 16: Friedliche und inklusive Gesellschaften, Zugang zum Justizwesen und effektive, verantwortungsvolle und inklusive Institutionen. Das ist eines der schweren, neuen Gebiete, die bisher nicht statistisch erfasst werden. Das Ziel ist auch politisch sensibel. Ein Indikator dabei ist etwa die Zahl der Ermordeten und Toten durch Konflikte pro 100.000 Einwohner. Das ist relativ leicht zu erfassen. Schwer zu messen ist der Indikator: ‘Anteil der Bevölkerung die glaubt, dass Entscheidungsfindungen auf allen Ebenen inklusiv und eingehend sind’.

Wie verhindern Sie, dass Regierungen falsche oder beschönigte Daten liefern?

Das ist eine berechtige Sorge. Datenmanipulation gibt es überall, Politiker tendieren dazu, Zahlen in ihrem Sinne zu interpretieren. Wir brauchen deshalb hohe Verantwortlichkeiten und klare Definitionen, Normen und Methodologien, wie die Daten erhoben werden. Transparenz ist wichtig, wenn jeder Einsicht in die Daten hat, dann gibt es Druck, dass sie richtig erhoben werden.

Der dänische Politikwissenschaftler Bjorn Lomborg schreibt, es brauche 250 Milliarden Dollar für die Erfassung der SDGs. Woher soll das Geld kommen?

Die Schätzungen von Lomborg sind wahrscheinlich übertrieben. Aber richtig ist, dass die weltweite Datenerfassung viel Geld kosten wird. Momentan wissen wir nicht, woher die Finanzen kommen sollen. Aber bei den letzten SDG-Verhandlungen haben alle Regierungen akzeptiert, dass sie die Fähigkeiten ihrer Statistikbehörden ausbauen müssen und dass das Geld kosten wird. Aber niemand hat was angeboten. Wir müssen nun das politische Momentum nutzen: Die letzte Sitzung der Statistikkommission war die wahrscheinlich am besten besuchte der letzten Jahre. Messungen sind schließlich die einzige Möglichkeit, um den globalen Entwicklungsprozess zu überwachen.

Kann denn ein Land wie Deutschland oder die EU eine besondere Rolle spielen?

Sicher. Wir arbeiten viel mit den Deutschen zusammen, wenn es um die Datenrevolution und ihre Implementierung geht. Wir haben auch gemeinsam die Indikatoren entwickelt, mit denen das 16. Entwicklungsziel erfasst werden soll. Momentan testen wir, wie Maßnahmen für die neuen Entwicklungsziele in verschiedenen Staaten implementiert und vor allem erfasst werden können. Großbritannien ist eines der Länder, das sich daran beteiligt.

Was passiert eigentlich, wenn die Daten gut erfasst werden, aber die Entwicklungsziele bis 2030 nicht eingehalten werden?

Nun, die Ziele werden von Politikern verhandelt. Eine Frage ist die von Haftung oder Sanktionierung. Darum ist es in den letzten SDG-Verhandlungen in New York aber kaum gegangen. Stattdessen ist viel unterstrichen worden, dass die neue Entwicklungsagenda nicht bindend sein wird. Vermutlich erhält sie den Status einer Erklärung, jeder Staat kann dann für sich entscheiden, ob er sich den Zielen verpflichtet oder nicht. Mir ist dabei aber wichtig zu betonen: Es gibt sanfte Wege, die Entwicklungsziele am Ende auch durchzusetzen. In vielen Ländern können die Menschen die Einhaltung der Ziele einfordern, sie können Politiker abwählen oder Korruption anklagen. Und wo sie es nicht können ist es eines der Ziele, eben dies zu ermöglichen. Es wird um eine Art von kollektiver Verantwortung gehen, und die kann durch die neuen Entwicklungsziele entscheidend gestärkt werden.

Das Interview führte Ingo Arzt

Weiterführende Informationen

Offizielle Webseite SDG-Verhandlungen

Zusammenfassung der dritten SDG-Verhandlungsrund 2015

Guardian-Artikel von Bjorn Lomborg zu den Kosten der Datenerfassung

Vorläufige Entwicklungsziele, mögliche Indiaktoren und ihr Rating [pdf, 359 KB]