„Das Risiko, die Schätze der Meere zu heben, ist enorm“ Interview mit dem Meeresexperten Stephan Lutter

Stephan Lutter, Meeresexperte des WWF, warnt davor, in der Tiefsee Äl- und Gas zu fördern und nach Erzen etwa in Form von Manganknollen zu suchen. Er hat gemeinsam mit anderen internationalen Experten die Autoren des dritten World Ocean Review beraten, der die Chancen und Risiken der Rohstoffgewinnung aus dem Meer beschreibt. 

Herr Lutter, aus dem „World Ocean Review III – Rohstoffe aus dem Meer“ geht hervor, dass in den Weltmeeren noch genug Äl steckt, um den weltweit wachsenden Energiebedarf zu decken. Rund ein Drittel der weltweiten Erdgas- und Erdölmengen werden schon heute im Meer gewonnen. Wo liegen die neuen Reserven?

Stephan Lutter: Sie befinden sich zum Teil weit unter dem Meeresboden und in großen Tiefen, etwa an den Kontinentalabhängen. Bisher bohrt und fördert die Industrie vor allem in den flachen Schelfmeeren. Der Tiefenrekord in der Älförderung liegt allerdings schon jetzt im Tobago-Feld im Golf von Mexiko mit 2943 Meter Wassertiefe. Beim Erdgas sind es 2.700 Meter.

Wann ist die technische Grenze erreicht?

Es ist eigentlich egal, ob in 800 Meter Tiefe wie vor den britischen Inseln oder in mehr als 2000 Meter Tiefe gebohrt wird. Die Risiken sind enorm und Unfälle schwer zu beherrschen. Die Explosion der Deep Water Horizon hat gezeigt, dass dies nicht nur für die Älfirmen, sondern auch für die Gesellschaft teuer werden kann.

Wie groß ist der Eingriff, wenn alles gut läuft?

Da gibt es große Unterschiede. Äl und Gas werden von Bohrplattformen aus gefördert. Nur wenn ein technisches Problem inspiziert werden soll, schicken die Firmen Tauchroboter in die Tiefe. Beim Meeresbergbau ist das ganz anders, da werden mit speziellen Maschinen großflächig Lebensgemeinschaften des Meeresbodens zerstört. Denn zur Suche nach Metallen und seltenen Erden in den Manganknollen der tiefen Ozeanbecken, nach Kobaltkrusten rund um die Gipfel der Seeberge und Meeresrücken und nach Massivsulfiden an ehemaligen oder noch aktiven heißen Quellen wird der Boden regelrecht umgewühlt.

Ist das die größte Bedrohung für die Tiefsee?

Stephan Lutter: Die industriellen Fischflotten, die mit ihren Schleppnetzen in einer Tiefe von bis zu 2000 Metern über den Meeresboden rattern und sämtliche Strukturen wegschrammen, die in Jahrtausenden gewachsen sind, zerstören am meisten. Von der UNO gibt es aber immerhin Vorschriften für Fischer, um die empfindlichen Ökosysteme wie Schwammbänke oder Korallenriffe zu schützen. Aber beim Bergbau und der Älförderung werden andere Maßstäbe angelegt. Da ist nichts ausgeschlossen.

Das Gros der Tiefsee ist noch gar nicht erforscht. Wieso greift nicht das Vorsorgeprinzip?

Rund zwei Drittel der Ozeane sind internationale Gewässer, also Hohe See, und unterstehen keiner einzelstaatlichen Regulierung. Eine einheitliche Verwaltung des weltweiten Meeresbodens und der menschlichen Aktivitäten jenseits der 200-Seemeilen-Zonen gibt es nicht. Für den Tiefseebergbau macht zwar die Internationale Seebodenbehörde ISA, die auf Jamaika sitzt, Vorschriften. Für Äl und Gas aber nicht. Und vor allem fehlen Vorgaben zum Naturschutz, die generell gelten. Zerstörerischer Meeresbodenbergbau ist derzeit in Meeresschutzgebieten grundsätzlich möglich.

Was wäre notwendig?

Die Schätze des Meeresbodens sind ein gemeinsames Erbe der Menschheit. Die Internationale Seebodenbehörde teilt die Bodenschätze durch Lizenzverfahren auf. Schwellen- und Entwicklungsländer haben dabei auch eine Chance. Dafür gibt es ein spezielles Verfahren. Wir brauchen zusätzlich ein spezielles Schutzinstrument, das der Tier- und Pflanzenwelt im Ozean zugute kommt. Bei der UNO gibt es schon seit über zehn Jahren Verhandlungen zum sogenannten Umsetzungsabkommen zum Schutz der biologischen Vielfalt auf der Hohen See. Aber nichts geht voran.

Spätestens seit der Klimadebatte ist klar, wie schwierig es ist, eine gemeinsame Verantwortung der internationalen Staatengemeinschaft zum Schutz des Planeten zu organisieren.

Es gelten aber bereits internationale Beschlüsse, nach denen bis 2020 mindestens zehn Prozent der Ozeane als Schutzgebiete ausgewiesen werden sollen. Bisher gibt es davon in internationalen Gewässern jedoch nur ganz wenige, eins in der Antarktis und sieben am Mittelatlantischen Rücken des Nordostatlantik.

Ist ein Strafenkatalog für Umweltschäden denkbar?

Für jedes Schiff unter jeder Flagge für jedes Gewässer gelten Vorschriften der Internationalen Schifffahrtsorganisation, um Leckagen und Unfälle zu vermeiden. Bei der Äl- und Gasindustrie ist indes Fehlanzeige. Für diese Branche muss ein weltweites Haftungsabkommen verabschiedet werden. Da kommen wir aber nur hin, wenn es eine Koalition der Willigen in der UNO gibt.

Der Weltklimarat IPCC schreibt den Meeren eine besondere Bedeutung als CO2-Puffer zu – ein hilfreiches Argument?

Man kann mit dem Klimaargument zumindest darauf drängen, dass weniger fossile Energiequellen im Meer angezapft werden. Außerdem kann es teuer werden, sich auf die Rohstoffe in der Tiefsee zu stürzen. Wir schieben damit die notwendige Minderung des Ressourcenverbrauchs auf. Damit lösen wir unsere Rohstoffprobleme nicht, aber verschärfen das Umweltproblem.

Weiterführende Informationen

World Ocean Review

Meeresschutzgebiet im Nordostatlantik