„Naturschutz ist fast immer Klimaschutz"

Professorin Katrin Böhning-Gaese erforscht als Direktorin des Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrums in Frankfurt am Main das Zusammenleben von Menschen und Natur. Im Interview erklärt sie, warum der Verlust der Biodiversität für den Menschen bedrohlich ist und wie sich die Natur retten lässt.

RNE: Katrin Böhning-Gaese, je mehr Vogelarten in der Umgebung, desto glücklicher sind die Menschen. Das ist ein Ergebnis Ihrer Forschung. Nur schwinden die Vögel. Was passiert da gerade in der Natur?

Katrin Böhning-Gaese: Die Zahl der Rebhühner ist innerhalb von 25 Jahren um 91 Prozent zurückgegangen, die der Kiebitze sogar um 93 Prozent, die Bestände der Feldlerchen haben sich halbiert. Denn in der Landwirtschaft ist die Produktivität seit dem Zweiten Weltkrieg immer weiter erhöht worden. Das war am Anfang auch notwendig, man wollte ja etwas zu essen haben. Das heutige Maß an fast industrieller Landnutzung verursacht jedoch massive Schäden.

Was setzt den Vögeln genau zu?

Alles ist darauf ausgerichtet, möglichst viel aus dem Acker zu holen. Damit sind Hecken verschwunden, die größer gewordenen Felder werden mit großen, schweren Maschinen abgeerntet. Es werden viele Pflanzenschutzmittel und Düngemittel eingesetzt. Und – das ist vielleicht das Schlimmste – wir haben viele Wiesen und Weiden zugunsten von monotonen Feldern mit Mais oder anderen Energiepflanzen für Biogasanlagen verloren. Wir gönnen unseren Mitlebewesen nicht ein einzelnes Körnchen auf dem Acker.

Sind die Probleme im Wald noch größer als auf dem Acker?

Unsere Langzeitdaten zeigen, dass der starke Rückgang von Vögeln ein Problem der Agrarlandschaft ist. Die Vögel in den Wäldern nehmen dagegen wieder zu. Auch in Feuchtgebieten oder Städten sind die Bestände zumindest stabil.

Der Trend ist positiv?

Arten, die wie der Schwarzspecht in riesigen alten Bäumen brüten, haben ein Problem. Hessen hat auf verantwortungslose Weise gerade erst den Schutz für alte Buchen in Schutzgebieten aufgegeben. Jetzt dürfen sie wieder gefällt werden. Aber ja, es gibt auch Vögel, die vom Baumsterben profitieren, weil sie Waldlebensräume mit Licht und Wärme lieben. Und im weniger dichten Wald kann die Sonne bis zum Boden durchdringen. Deshalb kehrt etwa die Heidelerche mancherorts zurück. Außerdem gibt es Projekte, in denen Kühe und andere große Weidetiere helfen, die Vielfalt im Wald zu sichern.

Kühe im Wald?

Auf der Schwäbischen Alb zum Beispiel grasen Rinder in einem Wald. Sie fressen den Unterwuchs weg, es gibt Platz für verschiedenste Sträucher, Gräser, Insekten, Vögel.

Wie dramatisch ist der Verlust der Biodiversität insgesamt?

Die Bäume sind bei uns nicht kritisch gefährdet, da sterben derzeit im Wesentlichen Fichten in Monokulturen, die auch nicht standortgerecht waren. Punktuell leiden zwar auch Buchen, aber viel weniger stark. Indes ist in Deutschland fast die Hälfte aller Vogelarten vom Aussterben bedroht, weil sie keine Insekten oder Samen mehr zum Fressen finden oder auch keine Verstecke und Nistplätze mehr haben. Die Vögel geben einen Hinweis, dass ganze Ökosysteme instabiler werden.

Das Gemeinschaftswerk Nachhaltigkeit hat Biodiversität als Fokusthema 2024 ausgerufen. Zu diesem Anlass sagten Sie, die Klimakrise entscheide, wie wir in Zukunft leben, die Biodiversitätskrise, ob wir überleben. Was droht den Menschen?

Würde die Biodiversität auf der Erde gänzlich verschwinden, hätten wir keine Luft mehr zum Atmen, kein sauberes Wasser, kein Essen, keine Medikamente, keine Kleidung. Und verarmt die Landschaft kann uns das auch krank und traurig machen. Indes stärken singende Vögel die Psyche.

Laut einer Studie der MaLisa Stiftung kreisen nur 0,2 Prozent der Sendeminuten im Fernsehen unmittelbar um das Artensterben. Warum sind die Gefahren kein größeres Thema?

Der Biodiversitätsverlust ist schleichend, wir bekommen das nicht richtig mit. Auch wenn wir in der Pandemie vielleicht die Natur lieben gelernt haben, gibt es eine große Distanz. Wer kennt denn die Feldlerche? Wir sind gewohnt, dass die Supermärkte voll sind mit Obst, Gemüse, Nüssen und merken allenfalls mal auf, wenn der Kaffeepreis steigt…

…weil die wenigen Hochleistungssorten nicht mehr mit dem Klimawandel klar kommen. Beneiden Sie die Klimaschützer*innen, die mit CO2-Limits argumentieren können?

Ganz und gar nicht. Die Vereinfachung hat dazu geführt, dass sich die Klimadebatte immer nur um technische Lösungen drehte, also um Windräder oder Solaranlagen. Dabei muss man sich auch für den Klimaschutz um Wälder kümmern und um Meere mit ihren Seegraswiesen, die viel Kohlenstoff binden. Es ist viel zu spät berücksichtigt worden, dass Naturschutz immer auch Klimaschutz ist.

Die Natur braucht Ruhe?

Wenn es um die Produktion von Nahrungsmitteln oder Holz geht, müssen wir gut mit der Natur zusammenarbeiten, umwelt-, wasser-, und klimafreundlicher wirtschaften. Aber klar, muss man die Natur auch einfach mal in Ruhe lassen. Deutschland hat sich mit Europa verpflichtet, 30 Prozent der Flächen an Land und in den Meeren unter Schutz zu stellen, und davon wiederum 30 Prozent unter strengen Schutz, wo man zuschaut, wie sich die Natur das Territorium zurückerobert.

Braucht es mehr Schutzgebiete oder bessere?

In Deutschland sind wir vermutlich schon nah an den 30 Prozent. Da geht es um mehr Qualität. Selbst im Nationalpark Wattenmeer, der nach allen Kategorien geschützt und sogar Weltnaturerbe ist, können die Krabbenfischer*innen in der Kernzone ihre Grundschleppnetze auswerfen, die den Meeresboden zerstören. Es ist peinlich, dass wir von Tansania oder Brasilien erwarten, große Schutzgebiete ganz ohne menschliche Nutzung einzurichten, uns selbst aber alles Mögliche erlauben.

Wie wild kann es werden, wenn allein der Wolf schon zu überfordern scheint?

Wir denken, Deutschland ist ein dicht besiedeltes Land. Wir können keinen Platz machen für die Natur. Dabei gibt es dafür gute Beispiele. Auf dem Darß an der Küste von Mecklenburg-Vorpommern etwa lässt man die Küste einfach Küste sein. Da kreisen nun wieder Seeadler. Im Herbst röhren Rothirsche, ziehen tausende Kraniche. Das ergreift nicht nur Biodiversitätsforschende wie mich, sondern auch viele Tourist*innen. Sie bringen Geld.

Naturtourismus ist es allein?

Nein, der Fleischkonsum muss weniger werden, das ist der Schlüssel schlechthin. Fleisch hat einen besonders großen Biodiversitäts-Fußabdruck.

Warum hat Fleisch einen besonders großen Biodiversitäts-Fußabdruck?

Für den Anbau von Tierfutter wie Soja werden große Flächen gebraucht, oft in artenreichen Regionen wie Brasilien. Wenn jede und jeder nur noch 300 Gramm Fleisch in der Woche isst, wir also zum Sonntagsbraten zurückkehren würden, hätte das einen enormen Effekt.

Ins Essen reinreden?

Das ist natürlich ein sehr persönliches Thema und ist auch nur eine Empfehlung. Und der Fleischkonsum geht ja auch schon zurück. Die Lebensmittelindustrie reagiert darauf längst, baut ihr Sortiment um und bietet pflanzliche Alternativen zu Fleisch und Milch an. Das Verhalten jedes einzelnen löst Druck auf die Wirtschaft aus. Sie reagiert auf Trends, die Marktforschung versucht diese auch vorwegzunehmen. Viele Firmen versuchen jetzt auch naturpositiv zu werden. Sie ermitteln die Auswirkungen ihrer Tätigkeiten auf die Natur und setzen sich dann Ziele.

Was erwarten Sie von der Politik?

Wer vorangeht, läuft immer Gefahr aus dem Markt gedrängt zu werden, wenn der Rahmen nicht stimmt. So sollte die Regierung zum Beispiel die Mehrwertsteuer für Fleisch erhöhen und die für pflanzliche Produkte auf Null setzen.

Und wenn der Zeitgeist ein anderer ist?

Derzeit empfinden es viele womöglich als Verlust, wenn Fleisch nicht mehr so angesagt ist. Wenn sie nicht mehr mit dem Auto auf den alten Parkplatz fahren können, weil dort ein Park entstanden ist. Darum braucht es zum Beispiel in den Kommunen eine viel größere Debatte darüber, wie wir wirklich leben wollen. So geht es den Menschen nachweislich besser, wenn viel Grün in der Nähe ist. Keinesfalls aber darf eine Regierung einzelnen Personen auf großen Traktoren so viel Gehör schenken, wie sie es derzeit tut. Wir brauchen die Natur zum guten Leben.

 

Zur Person

Professorin Katrin Böhning-Gaese, Biologin mit Schwerpunkt Ornithologie, ist Direktorin des Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrums, Trägerin des Deutschen Umweltpreises 2021 und Mitglied der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina. Ihr aktuelles Buch, das sie zusammen mit Friederike Bauer geschrieben hat, heißt „Vom Verschwinden der Arten – Der Kampf um die Zukunft der Menschheit.“ Im Januar 2023 ist sie als Mitglied in den Rat für Nachhaltige Entwicklung berufen worden.

Biodiversität im Gemeinschaftswerk Nachhaltigkeit

Das Interview wurde als Auftakt einer Reihe des Gemeinschaftswerk Nachhaltigkeit geführt, in dem Biodiversität als Fokusthema 2024 ausgerufen wurde. Denn neben der Klimakrise ist der dramatische Rückgang an biologischer Vielfalt die existentielle Bedrohung unserer Zeit. Biodiversität ist die Grundlage für unser Leben auf dieser Erde. Ob in der Stadtplanung, am Bau, in den Lieferketten von Unternehmen, in unserem Konsumverhalten, in Landwirtschaft und Landnutzung oder bei der Bekämpfung der Klimakrise – überall spielt biologische Vielfalt eine entscheidende Rolle. Mehr Informationen, Angebote und Materialien zum Thema gibt es hier.