Freiwillige Staatenberichte: Konsensbildung als treibende Kraft

Bei der Umsetzung der Agenda 2030 gibt es wenig messbaren Fortschritt – aber immer mehr Institutionen, die eben daran arbeiten. Beispiele aus aller Welt zeigen, mit welchen Methoden sich die globalen Nachhaltigkeitsziele in heimische Politik übersetzen lassen. Viele von ihnen kamen kürzlich zum High Level Political Forum bei den Vereinten Nationen in New York zusammen.

UN-Generalsekretär António Guterres ist ein Mann der klaren Worte und die, die er zum Auftakt des diesjährigen UN-Nachhaltigkeitsforums (HLPF) wählte, waren glasklar: Die Corona-Pandemie habe 124 Millionen Menschen in die Armut getrieben, die globale Ungleichheit und die Gewalt gegen Frauen habe zugenommen. Vier Milliarden Menschen weltweit seien ohne soziale Absicherung, die CO2-Konzentration der Atmosphäre sei auf Rekordhoch, ebenso, wie die Geschwindigkeit des weltweiten Artensterbens. „Das Hochrangige Politische Forum für Nachhaltige Entwicklung ist dafür gedacht, den Fortschritt der Agenda 2030 zu beurteilen. Aber wir müssen den Tatsachen ins Auge sehen: Statt Fortschritte zu machen, entfernen wir uns von unseren Zielen“, sagte Guterres zum Auftakt des jährlichen, achttägigen Treffens, bei dem die UN-Staaten durch Ministerinnen und Minister vertreten waren.

Doch Guterres weckte auch Hoffnung: Die Situation „kann und muss“ sich drehen, sagte er. Immerhin 42 Länder haben trotz Pandemie freiwillige Staatenberichte (im Englischen ‚Voluntary National Reviews‘ oder VNR) darüber abgeliefert, wie es um die Umsetzung der 17 Globalen Nachhaltigkeitsziele (SDGs) bei ihnen steht. Auch Deutschland war dabei – der Rat für Nachhaltige Entwicklung (RNE) sieht „noch großen Handlungsbedarf“. Abgesehen von der unguten globalen Entwicklung: Weltweit arbeiten Institutionen unermüdlich daran, den SDGs in ihren Ländern zum Durchbruch zu verhelfen. Auch darum ging es bei dem jüngsten Treffen in New York und seinen vielen Nebenveranstaltungen. Sie dienen dabei insbesondere der weltweiten Vernetzung, um Wissen und Erfahrungen auszutauschen.

So auch für den RNE: In Kooperation mit UN DESA, der Hauptabteilung Wirtschaftliche und Soziale Angelegenheiten der Vereinten Nationen, und weiteren internationalen Partnern hat er ein sogenanntes VNR Lab organisiert. Darin ging es um die Verknüpfung von VNRs mit nationalen Politikzyklen. Es zeigte an Beispielen und aktuellen Studien, welche Konzepte für eine institutionelle Verankerung der Umsetzung der SDGs in einem Staat am erfolgversprechendsten sind und wie zentrale Räte, Gremien oder Gruppen für deren Umsetzung am besten organisiert und eingesetzt werden. Das VNR Lab diskutierte diese Themen anhand von Beispielen von Partnern aus Benin, Deutschland, Namibia und Norwegen. Gemeinsam mit Regierungsvertreterinnen und -vertretern gaben Referentinnen und Referenten aus nationalen Multi-Stakeholder-Gremien Einblicke in ihre Arbeit. Sie schilderten beispielsweise, wie sie konstruktiv mit ihren jeweiligen Regierungen arbeiten, um die Agenda 2030 ambitioniert umzusetzen. Das VNR Lab betonte dabei besonders, dass Vertrauen zwischen solchen Beratungsgremien und ihren Regierungen essenziell für die erfolgreiche Umsetzung der SDGs sei. Eine weitere wichtige Erkenntnis: Es gibt zwar keine Einheitsgröße, die blind überall angewendet werden kann – doch lassen sich durchaus übergreifende Erfolgsfaktoren solcher Gremien ausmachen.

Vertrauensvolle Nähe und kritische Unabhängigkeit

Welche Merkmale das sind, haben beispielsweise die Autorinnen und Autoren einer kürzlich veröffentlichen Studie des Global Forum for National SDG Advisory Bodies untersucht. Das Global Forum ist ein vom RNE mitgegründetes Netzwerk, in dem sich Nachhaltigkeitsräte und ähnliche Gremien weltweit austauschen. Die Herausforderung dabei: Wie schaffen es Staaten, ein von wechselnden Regierungen und politischen Färbungen unabhängiges Gremium für Nachhaltigkeit zu etablieren? Acht Kernpunkte fasst die Studie zusammen, ein paar davon: In den Gremien müssen Vertreterinnen und Vertreter aus allen Bereichen der Gesellschaft sitzen, die auch bei widerstreitenden Positionen auf Fakten basierende, gemeinsame Positionen formulieren können und dabei bestenfalls bestehende Organisationen vom Umwelt- bis zum Wirtschaftsverband einbinden. Die Balance zwischen einer vertrauensvollen Nähe zur Regierung bei gleichzeitiger kritischer Unabhängigkeit ist wichtig. In Deutschland etwa ernennt die Bundeskanzlerin alle drei Jahre die Mitglieder des Nachhaltigkeitsrats, die Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft sind.

„Wege zu nachhaltigen Gesellschaften und Wirtschaften zu beschreiben und zu beschließen, ist anspruchsvoll und komplex. Es braucht Wissen und Evidenz, Netzwerke, Offenheit für Innovationen und Akzeptanz – idealerweise bei der gesamten Regierung und bei allen Sektoren und Mitgliedern der Gesellschaft“, sagt etwa Prof. Dr. Imme Scholz, stellvertretende Vorsitzende des RNE und stellvertretende Direktorin des Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik. Vor allem müsse bedacht werden, wie sich die Effekte von politischen Maßnahmen gegenseitig beeinflussen: Ein CO2-Preis, um Emissionen zu reduzieren, belastet besonders einkommensschwache Haushalte – es braucht daher einen sozialen Ausgleich. Zentral ist also das, was man im Englischen whole-of-society-approach nennt, ein Ansatz, bei dem alle eingebunden werden – auch lokale Akteure, Glaubensgemeinschaften, Jugendorganisationen, vulnerable Gruppen.

Weltweit verschiedene Kontexte: Vorreiter ja, aber kein Universalmodell

Namibia etwa gilt als einer der Vorreiter in Afrika bei der Umsetzung der Agenda 2030. Das Land hat bereits 2013 einen Sustainable Development Advisory Council gegründet, bestehend aus Vertreterinnen und Vertretern aus Ministerien sowie NGOs, etwa aus dem Umweltsektor oder der Young Women‘s Association. Namibia hat einen umfassenden Fortschrittsbericht beim jüngsten UN-Nachhaltigkeitsforum präsentiert. Von Juli bis Dezember 2021 läuft eine öffentliche Kampagne zur Umsetzung der SDGs, die sowohl Frauen- und Jugendgruppen als auch Menschen mit Behinderung in den Prozess einbindet und die indigene Bevölkerung in allen Sprachen erreichen soll, beispielsweise über verschiedene Radiosender.

Verschiedene Länder haben bei der Umsetzung der SDGs verschiedene Ansätze gewählt: In manchen ist der nationale SDG-Rat beim Staatsoberhaupt angesiedelt, anderswo in einem Ressort wie dem Wirtschafts- oder Umweltministerium. Sind Räte dagegen unabhängiger organisiert, ist ein institutionalisierter Austausch mit der Regierung wichtig – beispielsweise die Möglichkeit, Ministerinnen, Minister und andere Offizielle zu seinen Sitzungen einzuladen. Mancherorts sind Ministerien sogar gesetzlich verpflichtet, auf die Empfehlungen ihres Nachhaltigkeitsrats zu antworten. All dies zeigen die Studien des Global Forums anhand konkreter Länderbeispiele, die die Kontextabhängigkeit jedes einzelnen belegen.

Die Autorinnen und Autoren der Studien betonen aber: Vertrauen zwischen den Nachhaltigkeitsräten und der Regierung sei essenziell. Es gehe nicht darum, einfach Rechenschaft über Nachhaltigkeit gegenüber einem weiteren staatlichen Gremium abzulegen. Stattdessen müssten Regierung und andere gesellschaftliche Akteure im Konsens handeln, um die Ziele auch gemeinsam mit der Gesellschaft zu verwirklichen. In einer weiteren Studie des Global Forum wurde in vier Ländern untersucht, wie solche Multi-Stakeholder-Gremien praktisch funktionieren, also Gremien, in denen verschiedene gesellschaftliche Kräfte gemeinsame Positionen formulieren müssen. Wegen ihrer breiten Zusammensetzung genießen diese Gremien dann, wenn die gesamte Gesellschaft um Lösungen ringt, ein hohes Ansehen. Eine erste Auswertung der beim HLPF vorgelegten Staatenberichte zur Agenda 2030 zeigt: Wenn ein Staat erfolgreiche Nachhaltigkeitspolitik macht, dann gelingt dies durch Verbindlichkeit, eine breite Beteiligung und Zugang aller zu den Entscheidungsprozessen – und zwar nicht nur vor, sondern auch nachdem Entscheidungen gefällt werden. Auch deswegen müssen nationale Nachhaltigkeitsräte oder ähnliche beratende Gremien langfristig in der jeweiligen Architektur der Nachhaltigkeitspolitik verankert werden.