Beim Bauen schon ans Abreißen denken

In Deutschland werden Wohnungen, Bürogebäude, Hotels hochgezogen. Der Neubau belastet Klima und Umwelt enorm. Der Rat für Nachhaltige Entwicklung fordert ein Umdenken der Baubranche. An guten Beispielen mangelt es nicht.

Wenn die Bagger anrollen, um ein Gebäude abzureißen, ist es meist schon zu spät. Laster für Laster transportieren sie dann den Bauschutt ab, selten wird das Material für den Hausbau wiederverwendet, das Gros landet laut Umweltbundesamt aufbereitet im Straßenbau. Aber dass aus einem alten Haus ein neues wird, Baumaterialien wiederverwendet werden? Selten.  Zu selten – aus Sicht des Rates für Nachhaltige Entwicklung (RNE).

Der RNE fordert, dass die Prinzipien „Reduce, Reuse and Repair, Recycle“ Grundlage allen Wirtschaftens werden, das Denken in Kreisläufen also. Denn, so warnte der RNE in seiner 25-seitigen Stellungnahme zum zirkulären Wirtschaften vor kurzem: „Bei unverändertem Ressourcenverbrauch und gleichzeitig wachsender Weltbevölkerung bräuchte es bis 2050 ‘drei Erden’, um den Rohstoffbedarf zu decken.“ Der RNE will nun (u.a. mit einer Veranstaltung zum zirkulären Wirtschaften am 23.3.) eine Debatte anstoßen – und rückt die Bauwirtschaft mit ins Blickfeld. Dort sieht er ein „enormes Potenzial“.

Bauboom in Deutschland

Denn in Deutschland werden überall neue Wohnungen, Bürogebäude, Hotels hochgezogen – selbst in der Coronakrise und trotz steigender Material- und Energiekosten. Die Zahl der Baugenehmigungen für Wohn- und Nichtwohngebäude sei im vergangenen Jahr von Januar bis November auf rund 145.000 angestiegen, rechnet das Statistische Bundesamt vor. Das sei der höchste Wert seit 2006. Gut möglich, dass nicht jeder genehmigte Bau fertig gestellt wird. Das ändert aber nichts am grundsätzlichen Problem: dem Zement im Beton.

Ohne ihn kommt die Bauwirtschaft bisher kaum aus. Auf seine Herstellung entfallen derzeit rund acht Prozent der globalen CO2-Emissionen. Zwar wird an klimafreundlicheren Herstellungsprozessen gearbeitet, ganz CO2-frei werden die notwendigen chemischen Prozesse aber wohl nicht. Hinzu kommt der Abbau von Kalkstein, Sand und Ton, der die Umwelt schädigt, die Biodiversität gefährdet. Architekteninnen und Architekten, Bauingenieurinnen und Bauingenieure, Planerinnen und Planer denken bereits um – und an Alternativen zu neuem Beton.

So soll auf dem Gelände des einstigen Berliner Flughafens Tegel das größte Holzbauquartier Europas, wenn nicht der Welt entstehen: 5000 Wohnungen, komplett in Holzbauweise. Die Stadt München ließ bereits eine Öko-Mustersiedlung für 600 Wohnungen aus Holz im Prinz-Eugen-Park, einem alten Kasernenareal, errichten. In der Hamburger Hafen-City wird bald das höchste Holzhochhaus Deutschlands, das 18-stöckige „Roots“ stehen.

Holz fürs Klima

„Wenn wir Stahlbeton durch organische Materialien wie Holz oder Bambus ersetzen, können wir erhebliche Mengen an klimaschädlichen Emissionen vermeiden“, erklärt Klimaforscher Hans Joachim Schellnhuber, der die Initiative „Bauhaus der Erde“ mitgegründet hat. Es entstehe sogar eine Kohlenstoff-Senke, weil Bäume CO2 aus der Atmosphäre aufnehmen, wenn sie wachsen. Es bleibt gespeichert, denn ein Holzhaus steht für viele Jahre.

Doch die entscheidende Frage ist: Wie lässt sich der Lebenszyklus von Gebäuden und deren Bestandteilen langfristig denken? Leonard Schrage ist Mitgründer des Innovations- und Beratungsbüros Living Systems. Er sieht den Gebäudebestand als Lager von Holz, aber auch von Beton, Kunststoff und anderen Materialien. „Das sind Sekundärrohstoffe, die nicht auf der Deponie landen sollten, sondern ihren ganz eigenen Wert haben“, so Schrage.

Diesen Wert will er mit einem Team aus Architektinnen und Architekten, Stadtplanerinnen und -planern und Softwareentwicklerinnen und -entwicklern transparent machen und bei der Entwicklung eines ganzheitlichen, digital-gestützten Bausystems direkt mitdenken: „Jedes neue Gebäude bekommt einen Code, mit dem hinterlegt wird, welche Produkte und Komponenten in ihm stecken, ob sie recyclingfähig sind, wie sich mit ihnen ein Rückbau, Umbau oder Neubau gestalten ließe.“ Verbundstoffe seien zum Beispiel schwierig zu recyceln, Holzteile einfach. „Gebäude sind eine Materialbank“, sagt er, „Die Baumaterialien könnten künftig neben der Immobilie als Wert verbucht werden.“ Das werde bisher kaum bedacht. Ausnahmen gibt es allerdings.

Haus zum Schrauben

Das Büro RAU Architects hat nahe Utrecht ein komplett demontierbares Bürogebäude zumeist aus Holz für die niederländische Triodos-Bank errichtet. Das Gebäude wurde mit 165.312 Schrauben verschraubt, es kann also wieder auseinander geschraubt werden. Die Daten aller verwendeten Materialien sind in Madaster gespeichert, einer Materialdatenbank. Die hat Architekt Rau selbst aufgebaut, um Materialien, so nennt er das, „eine Identität zu geben“. Rau berät auch. Zusammen mit Sabine Oberhuber gründete er dazu die Firma Turntoo. Und noch ein Beispiel, für jene, die vorangehen: Die mehrfach ausgezeichnete Brüsseler Design-Kooperative Rotor Deconstruction sammelt, sortiert und verkauft solche Materialien.

Selbstverständlich ist das alles nicht. Die Bundesregierung will zwar einen Ressourcenpass für Gebäude einführen. „Das ist richtig und wichtig. Im selben Zug müssen dann auch Normen und Vorschriften angepasst werden, um die Wiederverwendung von Bauteilen zu erleichtern. Es geht aber um mehr“, sagt Angelika Hinterbrandner aus dem Architekturbüro Brandlhuber+ Team. Das Büro um Arno Brandlhuber gehört zu jenen, die eine neue Architektur in Deutschland prägen. Im vergangenen Frühjahr startete es gemeinsam mit Charlotte Malterre-Barthes, Architektin und Assistenzprofessorin für Städtebau in Harvard, den Aufruf: Stop Construction.

„Umbauordnung“ nötig

Für Hinterbrandner sind Richtungsfragen zu klären. Muss jedes Gebäude von Grund auf neu gebaut werden? Was müssen wir überhaupt noch bauen? Sie meint: „Nutzt, was da ist. Das Bauen sieht dann anders aus, hat aber seinen eigenen Charme.“ Das sähen auch einige andere schon so.

Architects4Future zum Beispiel fordern eine neue Musterbauordnung, eine „Umbauordnung“. Und in der Schweiz haben Architekturschaffende den „Countdown 2030“ ins Leben gerufen, mit dem sie ihren Kolleginnen und Kollegen unter anderem empfehlen, Abriss zu vermeiden. „Da rümpfen viele Architekten allerdings weiterhin die Nase“, sagt Hinterbrandner. Denn im Studium werde nach wie vor das Bauen auf der grünen Wiese gelehrt. „Da muss man klar sagen: Das ist vorbei“, fordert sie.