Wenn der Dorfladen zurückkommt

An vielen Orten machen Bürger vor, wie eine nachhaltige Entwicklung aussehen kann. Auf der Jahreskonferenz der Regionalen Netzstellen Nachhaltigkeitsstrategien tauschen sie sich aus – damit „eine richtige Bewegung“ entsteht.

Dann nehmen wir es selbst in die Hand. So sagten das Bürger in Deersheim, als der letzte Einkaufsmarkt in ihrem Ort mit 850 Einwohnern, nicht weit von Goslar gelegen, schloss. Das war vor rund sechs Jahren. Heute gibt es dort, wo früher ein Kuhstall war, einen Dorfladen. Im sachsen-anhaltinischen Stendal bauten Einwohner die leerstehende Kleine Markthalle um, bieten nun Kaffeetrinken, Handyschulungen für Senioren oder Filmabende an. Auch die Bürgerinnen und Bürger in Ballenstedt wehren sich dagegen, dass ihr Dorf im Harz verödet und bauen den verfallen Gutshof zu einer „Projekt-, Kreativ- und Ideenschmiede“ um.

Allerorten in Deutschland machen Leute vor, wie nachhaltige Entwicklung in der Gesellschaft aussehen kann. Mitte November kamen knapp 200 von ihnen in Berlin bei der Jahrestagung der Regionalen Netzstellen Nachhaltigkeitsstrategien, RENN, zusammen. Entscheidende Frage: Was ermutigt Bürgerinnen und Bürger, dran zu bleiben, sich zu engagieren – damit, so nannte es Sabine Gerhardt, die in der Geschäftsstelle des Rates für Nachhaltige Entwicklung das RENN-Projekt betreut, „eine richtige Bewegung“ entsteht.

Zeigen, wie Nachhaltigkeit geht

Bürgerinnen und Bürger vor Ort zeigten „sehr konkret“, wie der sozial-ökologische Wandel aussehen könne, betonte Alexander Müller. Er leitet die globale Studie des UN-Umweltprogramms über „The Economics of Ecosystems and Biodiversity for Agriculture and Food“ und ist Mitglied im Rat für Nachhaltige Entwicklung. Den Bürgern komme eine bedeutende Rolle zu, da Regierungen – auch die deutsche – ihre Zusage, die 17 UN-Nachhaltigkeitsziele voranzubringen, noch nicht ernst genug nähmen. Die Bundesregierung zum Beispiel wolle die Flächen, die für Siedlungen und Verkehr neu ausgewiesen werden, seit langem auf 30 Hektar am Tag beschränken. Der tatsächliche Flächenverbrauch liege aber immer noch bei 62 Hektar pro Tag.

„Das politische System ist zu langsam“, sagte Müller. Darüber hinaus „verändere sich die Welt derzeit – nicht zum Besseren.“ So widerspreche das Verhalten des neu gewählten rechtsextremistischen brasilianischen Präsident Jair Bolsonaro zum Beispiel den Nachhaltigkeitszielen. Er will den Amazonas-Regenwald für die wirtschaftliche Ausbeutung freigeben, hetzt gegen Minderheiten. „Es geht also auch darum“, meinte Müller, „international zu zeigen, dass zivilgesellschaftliches Engagement eine Gesellschaft voranbringt und dass Regierungen dies zulassen sollen.“

Gegenseitig Lernen

Die insgesamt vier Regionalen Netzstellen Nachhaltigkeitsstrategien in Deutschland wollen dieses Engagement stärken, den Austausch fördern. Mittlerweile haben sie schon zwei Jahre Erfahrung. Entscheidend sei „das gegenseitige Lernen“, sagte Danielle Rodarius von RENN.süd, und „mit der Ressource Zeit der Engagierten gut umzugehen“, meinte Barbara Makowka von RENN.nord. Josef Ahlke von RENN.mitte riet, nicht nur die „üblichen Verdächtigen mit rein zu holen“. Und Klaus Reuter von RENN.west empfahl, verschiedende Formate zu entwickeln, um ins Gespräch zu kommen – „große Arenen, Lounges, Laboratorien“ – und auch mal in „geschlossen Räumen zu reden“.

Sein Beispiel: RENN.west hat noch für dieses Jahr konventionell und ökologisch wirtschaftende Bauern, Landfrauen, Engagierte in Ernährungsräten, die die Lebensmittelproduktion lokal verankern wollen und andere eingeladen, um im kleinen Kreis zu beraten, wie die Agrarwende weitergehen kann.

„An unserer Haltung arbeiten, auch mit Menschen sprechen, die heute noch anderer Meinung sind“ – so nannte es Andreas Huber, Geschäftsführer der Deutschen Gesellschaft vom Club of Rome.

Genossenschaft gegründet

Aber wie stemmt man ein konkretes Projekt, wie kommt zum Beispiel der Dorfladen wirklich zurück? Elke Selke ist Koordinatorin des Entwicklungs- und Aktionsprogramms Agenda 21 im Landkreis Harz, sie hat den Laden in Deersheim mit aufgebaut. Die Energiekosten und eine fehlende Wärmedämmung machen ihnen zu schaffen, sagte sie. Auch hätten Dorfläden nicht die Einkaufsmacht wie große Handelsketten. Ihr größtes Problem heiße aber nicht Geld, sondern Zeit. Diejenigen, die sich engagieren, gönnten sich kaum Pausen, „sie sind immer aktiv“, sagte Selke.

Das Geld haben Selke und ihre Mitstreiter aufgetrieben. Der Biogeflügelhof spendete, der Dorfkrug, Familien. Vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft kamen 150.000 Euro. Außerdem gründeten sie am Anfang gleich eine Genossenschaft, ein Anteil pro Person kostet 50 Euro. Der Bürgermeister zahlt heute für jeden Neugeborenen im Ort einen Anteil aus eigener Tasche. Mittlerweile gibt es 130 Mitglieder in der Genossenschaft.

Im Schnitt kommen 90 Kunden pro Tag im Laden vorbei. 40 Ehrenamtliche helfen den vier Verkäuferinnen in Teilzeit, die Regale aufzufüllen und so fort. „Es gibt nicht zehn Sorten Zahnpasta, sondern das, was man braucht“, sagte Selke. Käse, Wurst und Kartoffeln kämen aus den Nachbarorten, Bioeier aus dem Dorf. Bevor sie und ihre Mitstreiter den Laden 2016 eröffneten, haben sie im Ort herumgefragt, was sich wer wünscht. Darum gibt es nun auch eine Poststelle, demnächst Eiskugeln, ein Café mit Imbiss, Schneiderkurse, Buchlesungen – anders gesagt: einen Mittelpunkt im Dorf.

Projektliste Nachhaltigkeit

Auf der Jahrestagung der Regionalen Netzstellen Nachhaltigkeitsstrategien tauschten sich die Teilnehmenden über eine Reihe von Projekten aus, darunter diese:

  • Das Bündnis sozial-ökologischer Wandel, das sich derzeit gründet, sucht Mitstreiter.
  • Wie lässt sich enkeltauglich leben? Franz Galler, Gründer des Büros für nachhaltige Regionalentwicklung, gibt Kurse.
  • Radfahren, werben, Gutes tun – das ist die Idee der Karlsruher Aktion Spendenradeln. Dabei werben Unternehmen auf Fahrrädern von Mitarbeitern oder Privatleuten und spenden als Gegenleistung 40 Euro pro Rad an eine soziale Einrichtung der Stadt.
  • Regionale Produkte besser an Kunden bringen? Eine Vermarktungsinitiative in Mecklenburg-Vorpommern, die sich „Meck Schweizer“ nennt, bringt Produzenten, Einzelhändler und Gastwirte zusammen.
  • Das Nachhaltigkeitsnetzwerk „wirundjetzt“ vom Bodensee will gesellschaftlichen Wandel stärken
  • Ein finnisches Startup hat ein Mehrwegsystem für den Online-Handel entwickelt.
  • Beim Kindermonat in Kommunen stehen die Jüngsten im Rampenlicht.
  • Faires und nachhaltiges Jugendengagement lässt sich fördern: faireklasse.de
  • Das Nachhaltigkeitszentrum Pier F in Frankfurt kümmert sich um nachhaltiges Bauen.
  • Die Natur ist reich an Wildkräutern. Mittlerweile werden mit ihnen aber auch große Geschäfte gemacht, zeigt die Anti-Wildhandel-Organisation Traffic.
  • Möglichkeiten schaffen, um zu tauschen statt zu kaufen will: tausch-konzepte.de
  • Die Bremer Initiative hilfswerft.de will bürgerliches Engagement stärken.

Gelegenheit zu erfahren, was aus diesem und weiteren bei den RENN.tagen 2018 vorgestellten Projekten geworden ist, gibt es auf der Jahrestagung der Regionalen Netzstellen Nachhaltigkeitsstrategien Ende 2019.