Urbanisierung: Neustart oder Katastrophe

Wenn Städte nicht grundlegend anders werden, ist der Klimawandel nicht aufzuhalten, sagt der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen. Wie das praktisch umzusetzen ist, zeigt ein Wiener Architekt.

China hat von 2008 bis 2010 so viel Zement verbaut wie der Vereinigten Staaten im gesamten 20. Jahrhundert. Ein Vergleich, der erst der Anfang einer Entwicklung ist, für die Benno Pilardeaux ein Wort besonders häufig verwendet: Wucht. Es fällt auch oft im jüngsten Bericht des Wissenschaftlichen Beirates der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU), den Pilardeaux, Leiter Medien- und Öffentlichkeitsarbeit des Beirates, mit verfasst hat.

„Der Umzug der Menschheit: Die transformative Kraft der Städte“ heißt er, bisher liegt nur die Zusammenfassung vor, im Juli wird die lange Version veröffentlicht. Die Hauptgutachten des von der Bundesregierung berufenen WGBU erscheinen nur alle zwei bis drei Jahre und haben zuweilen eine ähnliche Wirkung wie wissenschaftliche Standardwerke zu wichtigen Themen der Nachhaltigkeit.

Was der Bericht zunächst will, ist die schiere Wucht der Aufgabe zu verdeutlichen, vor der die Menschheit steht: 2,5 Milliarden Menschen zusätzlich werden bis Mitte des Jahrhunderts in den Städten dieser Welt wohnen. Dazu kommt, dass nach UN-Angaben 850 Millionen Menschen bereits heute in Slums leben – und die Weltgemeinschaft diese Armut beenden will.

Die bestehende Infrastruktur muss ebenfalls erhalten oder erneuert werden. 85 Prozent des Bedarfs entsteht in Schwellenländern, hauptsächlich Afrika und Asien. „In den nächsten 30 Jahren muss so viel Infrastruktur gebaut werden wie seit Beginn der industriellen Revolution“, sagt Pilardeaux – eine Verdopplung der Welt. Die UN sagen voraus, dass ohne ein Umsteuern allein in Afrika im Jahr 2100 bis zu zwei Milliarden Menschen in Slums leben könnten. „Wir müssen Städte radikal neu bauen. Sonst werden wir diese Wucht nicht überleben und unsere natürlichen Lebensgrundlagen gefährden“, sagt Pilardeaux.

Neue Kategorie der Nachhaltigkeit: die Eigenart

Allein die Baumaterialien wie Zement und Stahl würden bei ihrer Herstellung so viel CO2 freisetzen, dass die Erderwärmung nicht unter 1,5 Grad zu halten ist, heißt es im Bericht des WBGU. Was an Klimagasen freigesetzt wird, wenn diese Infrastrukturen genutzt werden, ist in der Zahl noch nicht enthalten.

Die Wissenschaftler machen in ihrem Gutachten zahlreiche konkrete Vorschläge, wie eine nachhaltige Transformation der Städte aussehen könnte. Sie gehen dabei weit über technologisch orientierte Ansätze hinaus, also etwa: Massiver Ausbau erneuerbarer Energien, weniger Autos, öffentlicher Nahverkehr, Wohnungsbau, weniger Armut im monetären Sinne.

In dem Bericht geht es um politische und ökonomische Teilhabe, um die Bevölkerung zu ermächtigen, die Städte mit zu entwickeln und dort neue Gemeinschaften, Vertrauen und soziale Netzwerke aufzubauen. Vor diesem Hintergrund führt der WBGU eine neue Kategorie in den Nachhaltigkeitsdiskurs ein: die Eigenart. „Jede Stadt muss auf ihre eigene Art den Weg in eine nachhaltige Zukunft suchen“, heißt es in dem Bericht. „Es gibt keine Blaupausen“, sagt Pilardeaux. Die Transformation Kopenhagens lässt sich beispielsweise kaum auf eine Stadt wie Kigali oder Mumbai übertragen – Städte, die in dem Gutachten genauer untersucht worden sind.

Kernpunkt der Studie ist deshalb ein „normativer Kompass“, an dem sich Stadtpolitik orientieren sollte. Organisatorisch und als Siedlungsstruktur steht dahinter die Idee einer „polyzentrischen“ Stadtentwicklung. Also Städte, die dezentral verwaltet werden und jeweils geringere Bevölkerungsdichten aufweisen, um zu verhindern, dass seelenlose Megastädte zwar Wohnraum bieten, aber zu Ausgrenzung und Isolation führen. Dafür müssten Städte und ihre Bevölkerungen in ihren Staaten mehr Verantwortung bekommen.

Nonconform: Wie wird ein Ort lebendig?

Wie Teilhabe vor Ort aussehen könnte, zeigt beispielhaft das Wiener Architekturbüro Nonconform. Die Architekten sind oft mit typisch europäischen Problemen konfrontiert: nicht wachsende, sondern schrumpfende Städte. Im Kern geht es aber um Grundfragen jeder Stadt: Wie wird ein Ort lebendig, wie finden sich die Bürger wieder?

Um das zu beantworten, entwerfen die Architekten nicht Konzepte an ihrem Schreibtisch, sondern entwickeln die Ideen vor Ort. Die Wiener packen ihr ganzes Büro ein und ziehen für ein paar Tage um. „Wir verwenden den Begriff Nachhaltigkeit nicht bewusst. Unsere Erfahrung zeigt, wenn man mit den Bürgerinnen und Bürgern Zukunftsaufgaben entwickelt, dann ergibt das automatisch einen sehr ganzheitlichen Ansatz. So werden viele unterschiedliche Aspekte berücksichtigt und so entstehen vernünftige, also nachhaltige Lösungen“, sagt Architekt Roland Gruber, der sein Konzept auch auf der Jahreskonferenz des Rates für Nachhaltige Entwicklung am 31. Mai in Berlin präsentieren wird.

Viele Beteiligungsprozesse würden von den Bürgern als fad und langweilig empfunden, sagt Gruber. Die Wiener arbeiten deshalb Monate im Voraus in den Städten, gehen zu Stammtischen, in Theater, in die Vereine und bereiten allmählich eine Art Ideenfestival vor: drei Tage verdichtetes Arbeit vor Ort. „Mütze, Bier und Suppentopf sind dabei wichtige alltägliche Bausteine“, sagt Gruber. Sein Team arbeitet erst als Moderator, sammelt Ideen und wechselt dann in die Expertenrolle, um live vor Ort aus den oft tausenden Ideen und Wünschen der Beteiligten konkrete Projekte zu entwickeln.

Umgebaute Wurstfabrik

Oft kommt etwas ganz andere heraus als anfangs gedacht. In der saarländischen Gemeinde Illingen wurde aus einer leerstehenden Wurstfabrik im Stadtzentrum statt eines kompletten Abrisses nur ein Teilabriss. Die wertvollsten Gebäude sind teilweise erhalten und umgebaut, nur Teile wurden neu errichtet. Neben Büros und Wohnungen gibt es nun auch einen Marktplatz mit einer Open-Air-Veranstaltungsfläche und ein Pflegewohnheim mit betreutem Wohnen. Mit ähnlichen Methoden partizipativer Architektur arbeiten auch andere Büros, beispielsweise das Berliner Büro „die Baupiloten“.

Das ist natürlich nur ein kleines Beispiel einer gewaltigen globalen Aufgabe, aber es ist genau diese Mikroebene, die entsprechende Strukturen braucht, um zur Entfaltung zu kommen. Um diese Strukturen hin zu mehr Beteiligung zu ändern, schlagen die Wissenschaftler des WBGU einen „Gesellschaftsvertrag für die urbane Transformation zur Nachhaltigkeit“ vor, eine weltweite Verpflichtung ähnlich wie die Globalen Nachhaltigkeitsziele oder der Weltklimavertrag. Mit der Debatte könnte schon bald begonnen werden: Im Herbst findet die Habitat III – Konferenz der Vereinten Nationen statt. Wie wichtige es wäre zu handeln, drücken die Wissenschaftler so aus:

„In den kommenden drei Dekaden könnten die Weichen in Richtung einer nachhaltigen Urbanisierung gestellt, aber auch eine Kaskade von dann irreversiblen Fehlentscheidungen in Gang gesetzt werden, die die Menschheit in eine Zivilisationskrise führt.