„Ich habe Angst, dass wir in Afrika wieder bei Null anfangen“

Das Thema Nachhaltigkeit wird zu oft als Marketinginstrument missbraucht, sagt Nick Lin-Hi, Professor für Wirtschaft und Ethik an der Universität Vechta. Ein Gespräch über den nötigen Kulturwandel in Unternehmen.

Herr Lin-Hi, die neuen Globalen Nachhaltigkeitsziele gelten als Meilenstein globaler Verantwortung. Allerdings bestimmen Globalisierung, technologischer Fortschritt und wirtschaftlicher Wandel den Kontext für Nachhaltigkeit. Deshalb werden im Zielkatalog die Unternehmen aufgefordert, „ihre Kreativität und Innovationsstärke im Bereich der nachhaltigen Entwicklung einzusetzen.“ Werden Unternehmen ihrer Verantwortung gerecht?

Nick Lin-Hi: Unternehmen können auf zwei Arten Verantwortung übernehmen. Sie können innerhalb ihres Kerngeschäfts positive Effekte für die Gesellschaft bewirken, das funktioniert meistens über Innovation und technologischen Fortschritt. Und sie können die negativen Effekte ihrer Geschäftstätigkeit reduzieren. Letzteres meint ganz klar auch, dass Unternehmen in der Lage sein müssen, Fehlverhalten zu vermeiden.

Was gelingt ihnen besser?

Unternehmen sind sehr darum bemüht, positiv in der Gesellschaft zu wirken und machen hierfür mittlerweile auch viel. Ein wesentlicher Grund für dieses Engagement sind die damit verbundenen Effekte für ihr Image. Unternehmen haben verstanden, wie wichtig es ist, als nachhaltig wahrgenommen zu werden. Das erklärt auch, warum sie gerne Leuchtturmprojekte ins Schaufenster stellen. Man muss aber sagen, dass Unternehmen zu wenig tun, um Fehlverhalten zu vermeiden. Korruption, Preisabsprachen, miserable Arbeitsbedingungen in Lieferketten, Menschenrechtsverletzungen oder Manipulationen sind nach wie vor weit verbreitet. Schauen Sie doch nur auf Volkswagen. Der Autobauer geriert sich als umweltfreundlichster Autobauer, stolpert dann aber über die Dieselgate-Affäre. Zwischen einzelnen CSR-Projekten und einer ganzheitlichen Nachhaltigkeitsstrategie sehe ich bei vielen Unternehmen leider noch immer eine zu große Abweichung zwischen Anspruch und Wirklichkeit.

Also alles Augenwischerei?

Das Thema Nachhaltigkeit wird zu sehr als Marketinginstrument missbraucht und zu oft auf schöne Projekte für Hochglanzbroschüren reduziert. Wirklich nachhaltig und verantwortlich tätig zu sein ist eine waschechte Managementherausforderung und verlangt die Bereitschaft zu sehr langfristigen Investitionen. Ökonomisch haben Unternehmen in der kurzen Frist wenig Anreize, sich grundlegend auf Nachhaltigkeit zu trimmen. Dafür müssten sie ihre kompletten Prozesse umkrempeln, und das ist teuer und schwierig durchzusetzen. Und Außenwirkung haben Sie nun mal nicht, wenn Sie einfach nur sagen, was sie alles nicht mehr an bösen Dingen tun. Mehr noch, solange Fehlverhalten nicht aufgedeckt wird, ist es für Unternehmen sogar profitabel. Schlimm wird es ja erst, wenn wie bei VW rauskommt, was Sie doch alles so treiben. Dann wenden sich die Kunden ab und die ganzen schönen CSR-Projekte nützen einem dann auch nichts mehr, zumal sich schlechte Nachrichten heute im Netz viel schneller verbreiten.

Phonak-Gründer Andy Rhis, der Ende der neunziger Jahre eine Radsport-Mannschaft finanzierte, die bei der Tour de France des Dopings überführt wurde, sagte einst: „Lieber schlechte PR als gar keine. Was schert mich der Skandal von gestern?“

Ein Hörgeräte-Hersteller, der Doping finanziert, ist vielleicht etwas anderes als Das Auto, dessen Umweltversprechen sich als Schwindel herausstellen. Es kommt ein Unternehmen teuer zu stehen, wenn klar wird, dass es auf Kosten der Moral und mit illegalen Methoden seinen Profit maximiert. Dieselgate beschädigt langfristig das Vertrauen der Stakeholder. Das hat Auswirkungen auf den Preis, weil Kunden nicht mehr an das Qualitätsversprechen glauben. Das hat Auswirkungen auf die Mitarbeiter, schließlich will sich niemand schämen müssen für seinen Arbeitgeber. Hinzu kommen Demotivationseffekte bei Mitarbeitern, wodurch Fluktuation und Krankenstand nach oben gehen. Insgesamt sinkt die Leistungsfähigkeit eines Unternehmens, was wiederum Auswirkungen auf die Eigentümer eines Unternehmens, auf die Investoren, hat. Zu betonen ist, dass es für Aktionäre wichtiger ist, dass ein Unternehmen sauber ist als dass es schöne CSR-Preise bekommt. Ein Beispiel: Wird eine Firma in einen Nachhaltigkeitsindex aufgenommen, schert das keinen, fliegt sie raus, reagiert die Börse. Und zwar nach unten. 

Dieselgate ist nur ein Fall von vielen. Über Wurstkartelle, Zinsmanipulationen, Gammelfleisch und Korruption liest man fast täglich. Welche Rolle spielen Haltung, Demut und Anstand heute noch?

Zu vielen Unternehmen fehlt die innere Haltung. Warum sonst ist CSR meist beim Marketing angesiedelt? Das reicht fürs Schaufenster, aber nicht für einen Kulturwandel. Dafür müssen sie Nachhaltigkeit als handlungsleitendes Prinzip etablieren, also ganz konkret und transparent auf jeden Einzelnen herunterbrechen. Jeder Mitarbeiter muss bei seiner täglichen Arbeit wissen, welchen Effekt die eigene Arbeit für Nachhaltigkeitsziele hat. Es reicht nicht, wenn Firmen einmal im Jahr ihre Beschäftigten fragen, ob sie Nachhaltigkeit wichtig finden oder nicht. Sie müssen bereit und in der Lage sein, dass sie jeden Tag dazu beitragen. 

Dafür braucht es Führungspersönlichkeiten…

…der Fisch stinkt vom Kopf her!

Beobachten Sie im Rahmen Ihrer Forschung einen Unterschied zwischen Unternehmen und Unternehmern? Sind Familienunternehmen – gerade in Deutschland – besser darin, einen positiven Beitrag zum Gemeinwohl zu leisten?

Familienunternehmen haben ein positiveres Bild in der Öffentlichkeit, allein schon wegen der lokalen Verankerung genießen sie einen Wert an sich. Allerdings sieht unsere Forschung keinen signifikanten Unterschied im Verhalten. Das hängt immer vom Einzelfall ab. 

Wie verändert das den sozialen Zusammenhalt einer Gesellschaft?

Marktwirtschaft und Unternehmertum verlieren seit mehr als zwei Jahrzehnten kontinuierlich Vertrauen in der Bevölkerung. Das zeigen zahlreiche Studien. Und ein solcher Vertrauensverlust erhöht die Transaktionskosten einer Volkswirtschaft. Nicht umsonst haben Bewegungen wie Occupy immensen Zulauf. Es fehlen Unternehmen, die sich nicht nur ein nachhaltiges Kleid anziehen, sondern die ihr Kerngeschäft nachhaltig bewirtschaften, weil sie wissen, dass sich das langfristig rechnet. Leider fokussieren Unternehmen oftmals auf kurzfristige Ziele.

Bleibt das Problem der Messbarkeit? Nur damit überzeugen Sie auch die Wankelmütigen.

Stimmt, ohne Business Case bewegen sich Unternehmen nicht. Sie werden ihre Wettbewerbsfähigkeit nicht im Namen der Nachhaltigkeit aufs Spiel setzen. Deshalb bauen sie ja gerne Leuchtturmprojekte mit greifbarem, schnell anfallendem Nutzen. Wenn sie ihren Laden aber komplett umbauen, haben Sie erstmal keinen Return on Investment. Ziel muss aber sein, und da ist auch die Wissenschaft gefragt, zu zeigen, dass und wie sich eine ganzheitliche Nachhaltigkeitsstrategie lohnt.

Das versuchen Sie mit Ihrem Forschungsprojekt in Asien?

Ja, mit dem Zulieferer KTC haben wir ein Unternehmen gefunden, das den richtigen Pfad eingeschlagen hat und bereit ist, sein Wissen zu teilen. In Zusammenarbeit mit dem Unternehmen können wir wirklich außergewöhnliche Daten erheben und wertvolle Einsichten gewinnen. Unsere Studien zeigen zum Beispiel, dass Arbeitsbedingungen einen signifikanten Effekt auf Produktivität und Qualität haben. Auch konnten wir nachweisen, dass chinesische Arbeiter stärker auf Arbeitsbedingungen reagieren als auf Lohnveränderungen. Hierin spiegelt sich wider, dass in China die ersten beiden Stufen der Maslowschen Bedürfnispyramide mittlerweile erfüllt sind und soziale Bedürfnisse an Relevanz gewinnen. Unsere Ergebnisse sind übrigens auch für Handel und Markenunternehmen interessant. Arbeitsbedingungen bei Lieferanten sind eben nicht nur ein Kostenfaktor, sondern auch ein Produktionsfaktor. Zudem sind Zulieferer mit guten Arbeitsstandards oftmals die besseren Kooperationspartner, da sie über eine höhere Managementkompetenz und Zuverlässigkeit verfügen. Es macht daher durchaus Sinn, Lieferanten stärker nach Nachhaltigkeitskriterien auszuwählen und das Einkaufsverhalten umzustellen. 

Es ist vor allem der Preisdruck, der Nachhaltigkeit bremst?

Ja, Unternehmen legen zu viel Wert auf billige Preise, was es wiederum den Lieferanten schwer macht, nachhaltig zu arbeiten. Langfristig wird es schon so sein, dass wir in Asien mehr Nachhaltigkeit bekommen werden. Aktuell sind wir hier auf einem guten Weg. Ich mache mir aber große Sorgen um Afrika. Wenn ich aber sehe, wohin es die globale Produktion aus Kostengründen gerade zieht, wie sehr sich etwa Äthiopien gerade zu öffnen versucht, dann habe ich Bauchschmerzen, dass wir in Afrika wieder bei Null anfangen.  

Das Interview führte Marcus Pfeil.