„Für eine Vorreiterrolle reichen die Ziel der EU längst nicht mehr“

Teil 3 unserer Gesprächsreihe zum Auftakt der UN-Klimakonferenz in Marrakesch: Olaf Tschimpke, Präsident des NABU und Mitglied im RNE, fordert transparente Regeln, um die Klimaschutzmaßnahmen verschiedener Staaten zu vergleichen – und kritisiert den deutschen Klimaschutzplan.

Frage: Gerade noch rechtzeitig haben genügend Länder das Klimaabkommen ratifiziert, so dass es nun zum Auftakt der COP22 in Kraft treten kann. Das hatte in Paris noch kaum jemand für möglich gehalten. Welche Erwartungen haben Sie vor diesem Hintergrund an die UN-Klimakonferenz?

Olaf Tschimpke: Die schnelle Ratifizierung des Pariser Klimaabkommens hat gezeigt, dass das Momentum von Paris noch immer den internationalen Klimaschutz beflügelt. In Marrakesch muss die Staatengemeinschaft nun versuchen, diesen Geist am Leben zu halten. Dazu braucht es eine starke Symbolik und Politprominenz, die sich medial zu Wort meldet. Und natürlich müssen nun konkrete Inhalte beschlossen werden, damit die Ziele des Pariser Klimaschutzabkommens auch tatsächlich erreicht werden können. Dazu zählt, dass die nationalen Klimaschutzbeiträge möglichst schnell einer Inventur unterzogen werden. Besonders wichtig dabei sind gute und faire Regeln zur Transparenz und Vergleichbarkeit und langfristige Klimaziele der Vertragsstaaten – das wiederum wird sich nur verhandeln lassen, wenn auch Finanzierungsfragen geklärt sind.

Marokko hat inzwischen einen höheren Anteil an Ökoenergien am Strommix als Deutschland, genauso wie einige lateinamerikanische Staaten. Selbst China ist kurz davor, seinen Höhepunkt an Emissionen zu erreichen – obwohl das Land das in Paris erst für das Jahr 2030 versprochen hat. Was muss Europa tun, um seine Vorreiterrolle in Sachen Klimaschutz wieder zu erreichen? Was kann Deutschland dazu beitragen?

Es ist wichtig, dass die europäischen Ziele für die Minderung der Treibhausgasemissionen, den Anteil erneuerbarer Energien und für Energieeffizienz bis 2030 sehr schnell überarbeitet und ambitionierter werden. Als die Ziele vor zwei Jahren verabschiedet wurden, hat die Bundesregierung stolz darauf verwiesen, dass zu den Zielmarken jeweils das Wort „mindestens“ durch sie eingebracht wurde. Nun muss sie sich dafür einsetzen, dass in Europa dieses Wörtchen dazu führt, dass die Ziele deutlich strenger werden und in Einklang mit den Pariser Klimazielen gebracht werden.

Denn schon jetzt ist sicher: 40 Prozent weniger Treibhausgase und jeweils 27 Prozent erneuerbare Energien und Energieeffizienzsteigerung bis 2030 sind viel zu wenig, um die Erderwärmung auf deutlich unter zwei Grad, besser noch auf 1,5 Grad Celsius, zu begrenzen. Die Anpassung der Ziele ist nötig, um Anschluss an die weltweite Klimapolitik zu halten, für die Vorreiterrolle reicht das längst nicht mehr. Dazu bräuchte es progressivere Politik. Ein europaweiter verbindlicher Kohleausstieg wäre zum Beispiel wirklich bemerkenswert! Deutschland könnte innerhalb der EU als größter Braunkohleverstromer ein wichtiges Signal setzen, wenn hierzulande der Kohleausstieg beschlossen würde.

Nachdem die EU es Ende September im Schnellverfahren möglich gemacht hat, das Pariser Klimaabkommen zu ratifizieren, werden nun harte Auseinandersetzungen über die Lastenverteilung innerhalb der EU erwartet. Was sind die Bedingungen dafür, dass es weiter eine gesamteuropäische Klimapolitik geben wird? Welche Rolle spielt die EU?

Die derzeitigen Auflösungserscheinungen innerhalb der EU sind kontraproduktiv für eine gute europäische Naturschutz- und Umweltpolitik im Allgemeinen. Klimaschutz als Politikfeld hat das Potenzial, die Identität der EU zu stärken, denn global ist ohnehin Handeln nötig. Wenn wir aus diesem Handlungsdruck für uns ableiten, dass wir Vorreiter bei Effizienztechnologien und Erneuerbaren Energien werden wollen, wäre das eine große Chance für den gesamten Wirtschaftsraum der EU.

Wichtig ist, dass sich zunächst einmal die Politik der EU ändert. Derzeit betreibt die EU-Kommission unter dem Begriff der „Better Regulation“ vor allem einen Abbau der guten und notwendigen EU-Regelwerke zu Natur- und Umweltschutz und unterwirft sich damit dem Diktat des wirtschaftsliberalen Flügels. Diese Politik trägt langfristig aber nicht dazu bei, dass die Errungenschaften der EU in der Naturschutz- und Umweltpolitik und idealerweise auch in der Klimaschutzpolitik Teil der europäischen Identität werden. Hier brauchen wir ein Umdenken.

Während der COP22 findet in den USA die Präsidentschaftswahl statt. Der Wahlausgang dürfte eine wichtige Weiche für den globalen Klimaschutz in den nächsten Jahren darstellen. Ihr Best-Case- und Ihr Worst-Case-Szenario?

Die wichtigste Weiche wurde bereits gestellt: Das Pariser Abkommen tritt in Kraft, unabhängig vom Wahlausgang in den USA. Unter Präsident Barack Obama haben die USA meist in Allianz mit China immer wieder wichtige klimapolitische Impulse gesetzt und zuletzt auch das Paris Agreement ratifiziert. Dadurch wurden auch die beiden Hürden zum Inkrafttreten genommen, nach denen mindestens 55 Staaten mit einem Anteil von mindestens 55 Prozent an den weltweiten Treibhausgasemissionen das Abkommen ratifizieren.

Aber selbst wenn Donald Trump gewählt würde, was sicherlich umwelt- und naturschutzpolitisch den WorstCase darstellen würde, und mit ihm die USA aus dem Pariser Klimaschutzabkommen austreten würden, bliebe es in Kraft. Im besten Fall würden die USA unter der Präsidentin Hillary Clinton das Thema Klimaschutz noch intensiver bespielen, als es Obama tut. Wer weiß, vielleicht entwickeln sich dann noch weitere schlagkräftige Allianzen im Klimaschutz, und die USA würden nicht nur in Sachen Symbolpolitik Vorreiter sein, sondern auch bei konkreten und ambitionierten Maßnahmen.

Welche Auswirkungen hat es, dass es Deutschland nicht rechtzeitig gelungen ist, den Klimaschutzplan 2050 abzustimmen?

Das ist eine gehörige Blamage für die deutsche Klimadiplomatie und zeigt deutlich, wie wenig konsistent deutsche Klimapolitik auf nationaler und internationaler Ebene ist. Im Sommer 2015 hatte Kanzlerin Merkel in Elmau die G7 zum langfristigen Ausstieg aus den fossilen Energien – der sogenannten Dekarbonisierung – bewegt und im gleichen Jahr auf der Weltklimakonferenz in Paris die Verabschiedung des globalen Klimavertrags als eine „Frage der Zukunft der Menschheit“ bezeichnet.

Und nun steht im kommenden Jahr die G20-Präsidentschaft Deutschlands an, wo eigentlich zu erwarten ist, dass die Bundesregierung darauf hinarbeitet, dass alle G20-Staaten vor 2018 einen langfristigen Klimaschutzplan vorlegen – das geht natürlich nicht, wenn Deutschland selbst nicht in der Lage ist, sich auf einen Klimaschutzplan zu einigen. Aber noch tragischer als der peinliche Zeitpunkt mit leeren Händen dazustehen ist der inzwischen miserable Zustand des Klimaschutzplans.

Während der Deutsche Bundestag Ende September das Pariser Klimaschutzabkommen einstimmig ratifiziert hat, hat Merkels Kabinett alle konkreten Maßnahmen und Sektorziele aus dem Klimaschutzplan gestrichen – als ob selbst auf höchster Ebene nicht begriffen wurde, was das Pariser Klimaschutzabkommen eigentlich bedeutet. Dann immer noch lieber keinen Klimaschutzplan als einen, der nicht mehr als solcher zu erkennen ist.

In Marrakesch wird es um die konkrete Ausgestaltung der abstrakten Pariser Einigung gehen. Welches sind aus Ihrer Sicht die entscheidenden Punkte bei der Umsetzung, damit das Pariser Klimaabkommen auch Wirkungen zeitigt und zu einem Erfolg wird?

In Marrakesch müssen die Weichen gestellt werden, um die Ziele des Paris Agreements überhaupt erreichen zu können. Das heißt, kurzfristige Maßnahmen müssen dringend weiter nach oben auf die Agenda, denn sonst rückt das 1,5 Grad Celsius Ziel außer Reichweite. Das wird nur weltweit funktionieren, wenn Finanzierungsfragen und Wissenstransfers geklärt werden. Und natürlich muss ein gerechtes Regelwerk für Transparenz und Vergleichbarkeit der jeweiligen Beiträge her.

Gleichzeitig müssen die Langfristziele aller Vertragsstaaten konsistent zum globalen Klimaziel werden. Das geht natürlich nur, wenn auch die nationalen Klimabeiträge schnell analysiert und nachgeschärft werden. Kurzum fordern wir, dass bei dieser COP klare Zeitpläne und Regeln verabschiedet werden, damit bereits im Jahr 2018 auf der COP24 der sogenannte „Facilitative Dialogue“ zu einer globalen Inventur der Treibhausgase wird und weltweit die nationalen Klimaschutzambitionen daran gemessen werden können – und in der Konsequenz so schnell wie möglich angepasst werden.

Ein wichtiger Punkt auf der Agenda werden die Schäden und Verluste durch den Klimawandel (etwa der Umgang mit Klimaflüchtlingen oder Landverluste durch Meeresspiegelanstieg) und damit auch die finanzielle Kompensation für die Betroffenen sein. Erwarten Sie in diesem strittigen Punkt in Marrakesch größere Fortschritte? Was halten Sie von dem Gedanken einer Art Versicherungssystems für die besonders Betroffenen, das auch von den Verursachern bezahlt wird?

Es war in Paris ein großer Erfolg, dass Loss & Damage endlich als eigenständiges Themenfeld im Abkommen aufgenommen wurde. Gleichzeitig wurde aber ausgeschlossen, dass sich Kompensationsverpflichtungen direkt aus den Schäden und Verlusten ableiten lassen. Und das ist genau der Knackpunkt. In Marrakesch muss der internationale Warschau-Mechanismus für klimabedingte Schäden und Verluste gestärkt und mit mehr Ressourcen ausgestattet werden. Darüber hinaus müssen Finanzierungsfragen angegangen werden.

Welches sind aus Ihrer Sicht die kontroversesten Punkte, die es in Marrakesch zu lösen gilt?

Wie bei fast allen Kontroversen wird es auch in Marrakesch bei den großen strittigen Fragen um Geld gehen – zum Teil direkt, zum Beispiel bei der Ausfinanzierung der verschiedenen Fonds für Vermeidung, Anpassung und Schäden und Verluste, zum Teil indirekt, denn selbst das Regelwerk für Transparenz und Vergleichbarkeit bedeutet mit seinen angestrebten Flexibilitäten, dass mehr oder weniger Kosten beziehungsweise Unterstützung bei der Umsetzung auf die einzelnen Vertragsstaaten zu kommen.

Wenn wir wollen, dass das Pariser Klimaabkommen seine Wirkung voll entfaltet und schnell zu ambitioniertem Klimaschutz führt, dann sind Zugeständnisse von allen Parteien notwendig. Deutschland muss dabei natürlich auch einen fairen Anteil an den Lasten tragen und weitere finanzielle Zusagen machen.

Es wird unter anderem darüber spekuliert, ob Deutschland weitere finanzielle Zusagen machen wird. Spannend ist in diesem Zusammenhang auch eine Initiative, welche die Bundesregierung auf dem Gipfel vorstellen will: Sie will Entwicklungsländern dabei helfen, ihre Klimapläne umzusetzen und mehr Ökoenergien zu installieren. Ihre Einschätzung dazu?

Finanzielle Zusagen sind wichtig und nötig – auch verhandlungstaktisch. Aber darüber hinaus braucht es auch konkrete Maßnahmen. Die COP ist ein guter Ort, um Initiativen für Wissenstransfers und mehr erneuerbare Energien in Entwicklungsländern vorzustellen. Gute Initiativen füttern den „Spirit“, den es für anhaltende Klimaschutzbemühungen braucht. Aber nicht zu unterschätzen ist auch die Symbolik von neuen Allianzen innerhalb der Klimadiplomatie. Durch die Zusammenarbeit Deutschlands mit Entwicklungsländern in konkreten Initiativen werden auch die über Jahre zementierten Fronten innerhalb der Verhandlungslogik der UNFCCC (United Nations Framework Convention on Climate Change) aufgebrochen und zwar auf beiden Seiten, das ist nötig um Verhandlungsfortschritte zu erzielen.

Die Fragen stellte Carolyn Braun.