"Deutschland und die EU müssen Klimaschutzziele deutlich erhöhen"

Teil 2 unserer Gesprächsreihe zum Auftakt der UN-Klimakonferenz in Marrakesch: Hubert Weiger, Vorsitzender des BUND und Mitglied des RNE, kritisiert im Interview die EU für die Schlupflöcher in ihrer Klimapolitik und fordert ambitioniertere Klimaschutzziele.

Frage: Gerade noch rechtzeitig haben genügend Länder das Klimaabkommen ratifiziert, so dass es nun zum Auftakt der COP22 in Kraft treten kann. Das hatte in Paris noch kaum jemand für möglich gehalten. Welche Erwartungen haben Sie vor diesem Hintergrund an die UN-Klimakonferenz?

Hubert Weiger: Das Inkrafttreten des Pariser Klimaschutzabkommens ist ein Grund zu feiern, aber nicht zum Jubeln. Ich persönlich freue mich sehr, dass das Abkommen das Ziel enthält, die globale Erwärmung auf weit unter zwei Grad, möglichst 1,5 Grad zu begrenzen. Das war eine zentrale Forderung des BUND und bedeutet, dass wir den Klimaschutz nicht länger aufschieben können, sondern radikale Emissionsreduktionen sofort umsetzen müssen. Gleichwohl sehe ich es auch als große Errungenschaft der internationalen Gemeinschaft an, dass es gelungen ist, das Abkommen so schnell auf die Füße zu stellen.

Die Verschärfung der Klimakrise und deren Folgen haben sicherlich dazu beigetragen. Wichtig ist jetzt, dass es bei der Umsetzung ähnlich schnell geht wie bei der Ratifizierung. Aus der 1,5-Grad-Grenze ergibt sich ein wichtiger Handlungsauftrag für alle Länder, die das Abkommen ratifiziert haben. Sie müssen ihre nationalen Klimaschutzpläne und auch alle anderen relevanten Politikbereiche mit dieser Grenze in Einklang bringen.

Die meisten Länder werden die Klimaschutzpläne, die sie bereits 2015 beim UN-Klimasekretariat eingereicht hatten, verbessern müssen, um einen angemessenen Beitrag zum Erreichen der Vertragsziele zu leisten. In Marrakesch müssen die Unterzeichnerstaaten ein politisches Signal setzen und sich zur Umsetzung des Abkommens bekennen. Bei den reichen Staaten warten wir hier auf Signale, wie sie den armen Ländern bei der Umsetzung und Verbesserung ihrer Klimaschutzpläne helfen können.

Marokko hat inzwischen einen höheren Anteil an Ökoenergien am Strommix als Deutschland, genauso wie einige lateinamerikanische Staaten. Selbst China ist kurz davor, seinen Höhepunkt an Emissionen zu erreichen – obwohl das Land das in Paris erst für das Jahr 2030 versprochen hat. Was muss Europa tun, um seine Vorreiterrolle in Sachen Klimaschutz wieder zu erreichen? Was kann Deutschland dazu beitragen?

Wir müssen den Ausbau der Erneuerbaren Energien beschleunigen. Wir müssen in Deutschland unser Erneuerbare Energien-Gesetz jetzt – nach Inkrafttreten des Pariser Abkommens – reformieren. Die letzte Reform hat den Deckel für den Ausbau der Erneuerbaren eingeführt. Diese Regelung steht im Widerspruch zum Pariser Abkommen und muss außer Kraft gesetzt werden, wenn wir bei der globalen Energiewende und im internationalen Klimaschutz wieder zu den Vorreitern gehören wollen.

Anstatt den Ausbau der Erneuerbaren einzugrenzen und den fossilen Kapazitäten Garantien für einen hohen Anteil an der Stromerzeugung zu geben, müssen wir in Deutschland in allen Sektoren Energie, Landwirtschaft und Verkehr Klimaziele für jedes Jahrzehnt festlegen. Der Ausstieg aus der Kohlekraft muss in Deutschland im Jahr 2030 weitestgehend vollbracht sein und Verbrennungsmotoren dürfen ab 2030 nicht mehr gebaut werden. Sowohl Deutschland wie die EU müssen zwingend ihre Klimaschutzziele deutlich erhöhen und mit klaren Zeitvorgaben umsetzen.

Nachdem die EU es Ende September im Schnellverfahren möglich gemacht hat, das Pariser Klimaabkommen zu ratifizieren, werden nun harte Auseinandersetzungen über die Lastenverteilung innerhalb der EU erwartet. Was sind die Bedingungen dafür, dass es weiter eine gesamteuropäische Klimapolitik geben wird? Welche Rolle spielt die EU?

Vor dem Hintergrund der Ratifizierung des Klimaschutzabkommens durch die EU müssen die Ratsbeschlüsse zur Klimapolitik vom Oktober 2014 revidiert werden. Das Vertragsziel, den Temperaturanstieg auf weit unter zwei Grad zu beschränken, muss die Basis für neue, ambitioniertere Klimaschutzziele der EU sein. Die Umsetzung des Pariser Klimaabkommens bedeutet für Europa mehr Anstrengungen im Klimaschutz und mehr Emissionsreduktionen.

Das schwache 30 Prozent-Ziel muss erhöht werden, um mit dem Pariser Klimaschutzvertrag im Einklang zu sein. Auch die Ziele für den Ausbau der Erneuerbaren und die Effizienz müssen erhöht werden. Diese Ziele müssen außerdem national verbindlich gemacht werden – wenn es kein Herunterbrechen dieser Ziele auf die nationale Ebene gibt, wird es schwer sein, Instrumente zur Zielerreichung umzusetzen und auch den Fortschritt hin zur Zielerreichung zu messen.

Eine große Schwäche der EU-Klimapolitik ist außerdem, dass sie den Ländern zu viele Schlupflöcher lässt, um ambitionierte Klimapolitik zu umgehen und die Ziele mit klimapolitisch fragwürdigen Methoden zu erreichen. Die Nutzung von Zertifikaten aus dem EU-Emissionshandelssystem und der Zugriff auf Gutschriften aus dem Landnutzungssektor schwächen die ökologische Wirksamkeit der europäischen Klimapolitik. Die Möglichkeiten, solche Zertifikate und Gutschriften zu nutzen, anstatt im eigenen Land Emissionen zu reduzieren, sollten in der EU so weit wie möglich eingeschränkt werden.

Während der COP22 findet in den USA die Präsidentschaftswahl statt. Der Wahlausgang dürfte eine wichtige Weiche für den globalen Klimaschutz in den nächsten Jahren darstellen. Ihr Best-Case- und Ihr Worst-Case-Szenario?

Es ist gut, dass der Pariser Klimavertrag schon jetzt, bevor der nächste Präsident oder die nächste Präsidentin in den USA sein oder ihr Amt antritt, in Kraft tritt. Wir setzen darauf, dass die konstruktive Rolle der USA in der globalen Klimapolitik, in enger Zusammenarbeit mit China, auch in Zukunft weitergeführt wird. Wir erhoffen uns von der nächsten US-Präsidentschaft auch auf nationaler Ebene, dass sie stärker als bisher auf Erneuerbare setzen wird anstatt Kohle durch gefracktes Gas zu ersetzen. Fracking ist nicht die Lösung der Klimakrise und hat neben klimaschädlichen Emissionen negative Auswirkungen auf Böden und Grundwasser.

Welche Auswirkungen hat es, dass es Deutschland nicht rechtzeitig gelungen ist, den Klimaschutzplan 2050 abzustimmen?

Der Klimaschutzplan 2050 ist nicht wie ursprünglich geplant am Mittwoch, dem 2. November, ins Kabinett gegangen. Mit dem Plan sollte die Bundesregierung aufzeigen, wie Deutschland das Pariser Klimaabkommen, auf das sich die Weltgemeinschaft im Dezember vergangenen Jahres geeinigt hatte, umsetzen will. Doch selbst eine knappe Woche vor Beginn der diesjährigen Weltklimakonferenz in Marrakesch bleibt die Koalition darüber zerstritten. Wir kritisieren diese Blockadehaltung.

Die Streichung der Sektorziele und wirksamer Klimaschutzmaßnahmen im Verkehrssektor, in der Landwirtschaft und der Energiewirtschaft durch verschiedene Bundesministerien ist klimapolitisch äußerst kontraproduktiv. Der Klimaschutzplan stellt ganz und gar keine Umsetzung des Pariser Klimaabkommens dar, welches der Deutsche Bundestag vor einem Monat ratifiziert hat. Deutschland liefert nicht das, was es der internationalen Gemeinschaft versprochen hat. Der Inhalt des Klimaschutzplans ist äußerst schwach. Die ursprüngliche Vorlage von Umweltministerin Barbara Hendricks wurde erst durch das Wirtschaftsministerium, dann durch das Kanzleramt verwässert.

Nun stellen sich die Unionsminister für Verkehr und Landwirtschaft sowie der Wirtschaftsflügel der CDU rigoros gegen wirksame Sektorenziele für 2030 und die notwendigen Maßnahmen für den Klimaschutz. Der Stromsektor muss schneller raus aus den fossilen Energien als alle anderen Bereiche. Die Bundesregierung ziert sich, den Kohleausstieg anzufassen, obwohl ein geordneter Ausstieg Vorteile für alle Seiten hat. Dafür braucht es jetzt einen Ausstiegsplan mit sozialen und wirtschaftlichen Perspektiven.

In Marrakesch wird es um die konkrete Ausgestaltung der abstrakten Pariser Einigung gehen. Welches sind aus Ihrer Sicht die entscheidenden Punkte bei der Umsetzung, damit das Pariser Klimaabkommen auch Wirkungen zeitigt und zu einem Erfolg wird?

Es geht jetzt darum, dass Staaten, die den Klimawandel verursacht haben und heute viele Emissionen haben, sich zu einem raschen Ausstieg aus den fossilen Energieträgern bekennen. Wir erwarten von der Bundesregierung und allen anderen Ländern, sich in Marrakesch klar für traditionelle Emissionsreduktionsstrategien wie den Ausstieg aus den Fossilen, die Beschleunigung des Ausbaus der Erneuerbaren, den Schutz von Wäldern und Böden, das Ende des Verbrennungsmotors und die Umstellung auf ökologische Landwirtschaft auszusprechen.

Negativen Emissionstechnologien, die angeblich dafür sorgen können, Emissionen im Boden zu speichern oder Sonnenstrahlen zu reflektieren, muss eine Absage erteilt werden. Es ist gefährlich, sich auf kostspielige und unerprobte Technologien zu verlassen, wenn unklar ist, ob sie Emissionen tatsächlich langfristig unter der Erde speichern können und ob es genug Fläche auf der Erde gibt, um solche Projekte umzusetzen. Vielen dieser großtechnologischen Lösungen ist gemein, dass es hier nur um das Ziel geht, die Emissionen zu verstecken, und nicht darum, Klimaschutz mit Armutsbekämpfung und Ressourcenschutz zu verbinden.

Daher ist es wichtig, dass die Staatengemeinschaft in Marrakesch das politische Signal an die Weltgemeinschaft aussendet, dass jetzt eine Klimaschutzpolitik umgesetzt werden muss, die die Interessen und Bedürfnisse der Ärmsten und den Schutz von Ökosystemen als zentrale Leitplanken erachtet. Marrakesch muss für konkreten Klimaschutz für den Menschen stehen.

Ein wichtiger Punkt auf der Agenda werden die Schäden und Verluste durch den Klimawandel, etwa der Umgang mit Klimaflüchtlingen oder Landverluste durch Meeresspiegelanstieg, und damit auch um finanzielle Kompensation für die Betroffenen sein. Erwarten Sie in diesem strittigen Punkt in Marrakesch größere Fortschritte? Was halten Sie von dem Gedanken einer Art Versicherungssystems für die besonders Betroffenen, das auch von den Verursachern bezahlt wird?

Es ist gut, dass Schäden und Verluste jetzt so zentral auf der Agenda der Klimaverhandlungen stehen. Wir finden es wichtig, dass die Verursacher sich an den Folgen des Klimawandels und ganz zentral auch beim Umgang mit Schäden und Verlusten finanziell beteiligen. Umsiedlungen, der Neubau von Häusern und Umschulungen für Menschen, die an Küsten gelebt haben und in der Fischerei tätig waren: All das muss finanziert werden. Wir alle müssen für diese Kosten des Klimawandels aufkommen. Es liegt in unserer Verantwortung, als Verursacher des Klimawandels, die Betroffenen nicht im Regen stehen zu lassen. Öffentliche Gelder müssen zur Verfügung gestellt werden. Der Privatsektor darf hier keine Rolle übernehmen – er ist ein wichtiger Akteur bei der Umsetzung der Energiewende – aber nicht im Umgang mit Schäden und Verlusten.

Welches sind aus Ihrer Sicht die kontroversesten Punkte, die es in Marrakesch zu lösen gilt?

Finanzierung ist eine große Frage. Es ist gut, dass wir jetzt die Roadmap zur Finanzierung haben, aber es gibt noch viele ungeklärte Fragen, die großes Konfliktpotential haben. Unter anderem die Frage, welchen Anteil an der Klimafinanzierung Regierungen übernehmen und welchen Anteil der Privatsektor zur Verfügung stellen soll. Ein Streitpunkt könnte auch sein, welcher Anteil der Gelder für Klimaschutz und welcher für die notwendige Anpassung an den Klimawandel eingeplant wird.

Es wird unter anderem darüber spekuliert, ob Deutschland weitere finanzielle Zusagen machen wird. Spannend ist in diesem Zusammenhang auch eine Initiative, welche die Bundesregierung auf dem Gipfel vorstellen will: Sie will Entwicklungsländern dabei helfen, ihre Klimapläne umzusetzen und mehr Ökoenergien zu installieren. Ihre Einschätzung dazu?

Die NDC-Partnerschaft, die die Bundesregierung in Marrakesch vorstellen will, unterstützen wir. Genauso loben wir das Engagement der Bundesregierung für die African Renewable Energy Initiative. Jetzt, wo es um die Umsetzung des Abkommens geht und auch darum, wie Länder wie Deutschland ärmere bei ihren Klimaschutzanstrengungen unterstützen können, kommen solche Initiativen sehr gelegen. In beiden muss jedoch sichergestellt werden, dass sich die lokale Zivilbevölkerung und gerade auch Verbände, die sich für Umwelt- und Klimaschutz engagieren, einbringen können.

Außerdem muss es besonders bei der NDC-Partnerschaft darum gehen, sich über Mittel und Wege zu verständigen, wie die nationalen Klimaschutzpläne nicht nur umgesetzt, sondern auch ambitionierter gestaltet werden können, um zur Erreichung des 1,5 Grad Ziels beizutragen. Vielleicht bekommt die Bundesregierung im Kontext der NDC-Partnerschaft ja auch Unterstützung bei der Formulierung ihres eigenen Klimaschutzplans 2050, der bisher ja noch viel zu schwach und von einer Umsetzung des Abkommens meilenweit entfernt ist.

Die Fragen stellte Carolyn Braun.