Bürger erobern die Stadt zurück

Das Projekt Reallabor 131 in Karlsruhe zeigt, wie gutes, nachhaltiges Leben in einem typischen europäischen Stadtviertel organisiert werden kann. Der Rat für Nachhaltige Entwicklung sieht in ihm ein „großes Potenzial“ und hat es jetzt als Transformationsprojekt im Rahmen von Projekt Nachhaltigkeit 2017 ausgezeichnet.

In der Karlsruher Oststadt wandelt sich das Leben beispielhaft. Neuerdings pflanzen die Bewohner dort an öffentlichen Plätzen Kräuter, Obst und Gemüse, sie ernten und imkern. Zwar wird auch in anderen Städten schon Honig gewonnen, dennoch ist diese Initiative, die sich „Beete & Bienen“ nennt, bemerkenswert. Sie geht zurück auf eine neue Art der Bürgerbeteiligung in der Stadtplanung – und das Reallabor 131: KIT findet Stadt.
Im Reallabor 131erproben Wissenschaftler des KIT, des Karlsruher Instituts für Technologie, mit Bürgern, Händlern und Planern vor Ort, wie ein Stadtviertel nachhaltiger wird. Das Projekt, dessen Name sich anlehnt an die Postleitzahl der Oststadt 76131, ist vom Rat für Nachhaltige Entwicklung als Transformationsprojekt 2017 ausgezeichnet worden. Für den Rat zeigt es „ein besonders großes Potenzial, die Welt nachhaltiger zu gestalten.“
Niemals zuvor lebten so viele Menschen in urbanen Zentren, und der Trend setzt sich weiter fort. Denn das 21. Jahrhundert gilt als das Jahrhundert der Städte. „Dort entscheidet sich die Zukunft“, sagt Colette Waitz, die das Projekt koordiniert. In der Oststadt mit seinen rund 20.000 Einwohnern soll sich zeigen, wie gutes, nachhaltiges Leben in einem typischen europäischen Stadtviertel organisiert werden kann, was in der Praxis funktioniert – und was nicht.
Ausgangspunkt des Reallabors ist ein „Bürgerprogramm“, das zunächst in einer Versammlung, der „Auftaktwerkstatt“ vorgedacht, dann über das Internet, in einer „Onlinewerkstatt“, diskutiert und in der „Ergebniswerkstatt“ verabschiedet wurde. Gut 300 Anwohner verschiedenen Alters haben so mit darüber nachgedacht, wie die Karlsruher Oststadt lebenswerter wird.
Sie wünschten sich etwa in einem Park des Viertels mehr Bänke, auf einem Platz mehr „Flair“, vielleicht durch ein Eiscafé. Dazu kam Grundsätzliches wie: Mehr Nachbarschaft, da immer mehr Städter alleine leben, die Neustrukturierung von Straßenraum, hin zu mehr Platz zum Radfahren oder auch zum Verweilen und die „Restrukturierung des Einzelhandels“.
Das ist nun zwei Jahre her. Seither werden die Bürgerwünsche im Reallabor weiter entwickelt. Die Projektmacher eröffneten dazu mitten im Stadtviertel einen „Zukunftsraum“. Dort treffen sich die Wissenschaftler, Bürger, Stadtvertreter regelmäßig. Es finden Tauschbörsen von Kleidern oder Pflanzen statt und Veranstaltungen zu Gemeinwohlökonomie, Solidarische Landwirtschaft oder Foodsharing. Zudem überlegen dort die Anwohner, die sich in vier Initiativen zusammen getan haben, ihre nächsten Schritte,
Nummer 1: „Beete & Bienen“, Nummer 2: der „Oststadt-Treff“, der zum Beispiel regelmäßig Quartiers-Picknicke organisiert, Nummer 3: der „Kreativsalon“, der zum Theaterspielen oder Musikmachen einlädt. Und zu guter Letzt das Team „SecondFuture“, das ein „SecondFuture-“Logo zum Aufnähen erfunden hat. Die Idee: Second-Hand, Gebrauchtes wird zur Marke, weniger und anderer Konsum hipp.
Die vier „Nachhaltigkeits-Experimente“, wie sie Waitz und ihre Kollegen nennen, werden von den Wissenschaftlern begleitet. Für sie ist die Forschung im Reallabor neu, sie entwickeln kein Konzept in der Theorie, das später womöglich zur Sache der Politik wird und die Bürger mehr oder weniger murrend hinnehmen. Sie erarbeiten ihre Ideen mit den Betroffenen vor Ort, in ihrem Alltag.
Ein Jahr lang haben manche der Wissenschaftler zum Beispiel auch ins „Alltagsreisebüro“ geladen, wo sich Bürger über Alternativen zum Auto beraten lassen konnten. Dabei zeigte sich zugleich, warum der Umstieg auf Rad oder Einstieg in Bus und Bahn bislang schwer fällt. Am Ende soll ein neues Mobilitätskonzept stehen. Andere Forscher entwickelten eine elektronische Schnitzeljagd durch die Oststadt. Das Ziel: Die Bürger gehen raus, bewegen sich, entdecken spielerisch Plätze und ihr Viertel – und beleben es neu.
Das Reallabor 131 sorgt weltweit für Interesse. Wissenschaftler aus anderen Ländern, etwa aus Australien sind gekommen, Kooperationen mit Ländern wie Mexiko sind angedacht. Das Projekt läuft vorerst noch bis Ende diesen Jahres. Eine entscheidende Erkenntnis für Forscherin Waitz schon jetzt: „Den Menschen liegt daran, ihre Zukunft mitzugestalten.“