„Wenn Deutschland es nicht schafft, wer dann?“

Eine internationale Expertenkommission stellt auf der Jahreskonferenz des Rates für Nachhaltige Entwicklung ihre Bilanz der Nachhaltigkeitspolitik in Deutschland vor – und gibt elf Empfehlungen, was sich jetzt ändern muss.

An diesem Tag wird Bilanz gezogen. Der Rat für Nachhaltige Entwicklung, RNE, hat in das Berliner Tempodrom zu seiner 18. Jahreskonferenz geladen, gekommen sind rund 1.400 Gäste aus dem In- und Ausland. Die entscheidende Frage: Wo steht die deutsche Nachhaltigkeitspolitik?

Marlehn Thieme, Vorsitzende des RNE, nimmt in ihrer Begrüßung eins vorweg: „Ohne falschen Alarmismus müssen wir feststellen: Ja, wir haben Anlass zu großer Sorge.“ Noch immer gehe „zu viel in die falsche Richtung“. Gebe die Politik aber etwa ihre Ziele zur Minderung der Treibhausgase bis 2020 auf, warnt sie, schade das nicht nur dem Klima, sondern auch der Demokratie. Denn das Signal sei: die Politik glaubt nicht mehr an sich selbst, und das gebe populistischen und rechten Parolen Auftrieb. Anders gesagt: Es geht um viel, um alles.

Thieme stützt sich auf eine 11-köpfige internationale Expertenkommission, die über rund acht Monate die deutsche Nachhaltigkeitsstrategie mit großem Aufwand untersucht hat. Das hochrangige Gremium traf sich – unterstützt vom RNE – mit Stakeholdern der deutschen Nachhaltigkeitspolitik, führte Gespräche mit rund 100 Leuten aus Politik, Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Wissenschaft und beriet anschließend über Schlussfolgerungen und Empfehlungen. Herausgekommen ist ein Bericht, der aufzeigt, was gut läuft, was noch verbessert werden muss.

Grundsätzlich habe Deutschland als reiches High-Tech-Land mit engagierten Bürgern und Erfahrung in Stakeholderdialogen „alle Kapazitäten“, um die Transformation zu schaffen, sagte Helen Clark, die den Bericht im Berliner Tempodrom vorgestellt und dort auch Bundeskanzlerin Angela Merkel überreicht hat. Clark, einst Chefin der Regierung von Neuseeland, später des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen, UNDP, hat den Peer Review geleitet. Nur, so Clark weiter: „Die praktischen Ergebnisse sind nicht wie sie sein sollten.“

Die Artenvielfalt schwinde, der Flächenverbrauch gehe zu langsam zurück, der CO2-Fußabdruck etwa im Verkehr stagniere. Obendrein nehme die gesundheitsbedenkliche Fettleibigkeit zu, gehe die soziale Schere weiter auseinander, kritisieren Clark und die anderen Gutachter.

Sieben von ihnen waren auch zu Gast auf der Jahreskonferenz, stellten sich der Diskussion. Sie alle wollen mehr Tempo, mehr Ambitionen beim zukunftsfähigen Umbau der Gesellschaft – und haben elf Ratschläge entwickelt:

  1. Funktionierendes fortsetzen, Gutes ausbauen und Unzulängliches verändern. Deutschland, so die Gutachter, solle etwa „unzulängliche Politiken schnell“ angehen. Ganz grundsätzlich meinte Namhla Mniki-Mangaliso, die als Direktorin des African Monitors zu den Experten gehörte: „Wir haben die Zukunft, die wir erschaffen.“
  2. Die institutionelle Architektur zur Umsetzung der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie effektiver gestalten. Gutachter Farooq Ullah, er ist Co-Vorsitzender der UK Stakeholders for Sustainable Development, sagte in Berlin: „Wir müssen bessere Wege für die Umsetzung schaffen“, alle Ressorts müssten Verantwortung übernehmen, etwa Aktionspläne vorlegen.
  3. Die eigenen Ziele ehrgeiziger setzen. So ermutigen die Gutachter etwa zum „Ausstieg“ aus der Kohle oder zur „Trendumkehr beim Verlust der biologischen Vielfalt“.
  4. Förderung eines befähigenden Umfelds, wo niemand zurückgelassen wird. Selbst in Deutschland gebe es Ausgrenzung von Armen und Migranten, erklärte Clark, die Nachhaltigkeitsdebatte sei „oft“ allein auf Ökologie ausgerichtet. Die Regierung soll einen Orientierungsrahmen für mehr Inklusion geben.
  5. Die Bundesregierung sollte ihre zentrale Koordinierung stärken und gravierende Abweichungen von den selbst gesteckten Zielen entschieden angehen (off track indicators). Die Gutachter fordern etwa, dem Staatssekretärsausschuss für nachhaltige Entwicklung, der vom Chef des Bundeskanzleramtes geleitet wird, „mehr Durchschlagskraft zu verleihen“.
  6. Parlament: Eine stärkere parlamentarische Kontrolle ist notwendig. Beispielsweise soll der parlamentarische Beirat für nachhaltige Entwicklung „mehr Macht“ bekommen.
  7. Die unabhängige Funktion des Rates für Nachhaltige Entwicklung sollte gestärkt werden. Die Experten regen an, die rechtliche Position des RNE zu evaluieren.
  8. Die Kommunikation auf einen neuen Stand bringen. Adolfo Ayuso-Audry, als Generaldirektor im Präsidialamt Mexikos verantwortlich für die Umsetzung der Agenda 2030 und einer der Experten, forderte, „ein stärkeres Bewusstsein zu schaffen“. Die Peers schlagen „eine Haushaltslinie für die Kommunikation der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie“ vor.
  9. Die Fähigkeit zum Systemdenken und Bildung für Nachhaltigkeit fördern. Zum Beispiel sollen Politiker und Beamte „auf eine informierte Debatte“ vorbereitet werden. Teresa Ribera, Direktorin des unabhängigen Instituts für nachhaltige Entwicklung und internationale Beziehungen (IDDRI), erklärte: „Kommunen wissen, dass sie was tun müssen – aber sie wissen nicht wie.“
  10. Indikatoren: Budgets für und Aktivitäten zum Monitoring erweitern. Karl Falkenberg als ehemaliger Sonderbeauftragter für nachhaltige Entwicklung des EU-Kommissionspräsidenten in der Expertengruppe: „Deutschland meint immer noch, wir machen das ganz gut, wir sind an der Spitze“, doch seien etwa Wasserqualität oder Artenvielfalt „nicht state of the art“.
  11. Aufkommende Fragen angehen und die Grundsätze der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie bei den globalen Interaktionen Deutschlands anwenden. Peer Joost Oorthuizen, CEO der niederländischen Sustainable Trade Initiative: „Gucken sie auf ihre Lieferketten“, also etwa darauf, welche Auswirkungen Deutschlands Handelsmuster weltweit haben.

Aber steht allem Fortschritt nicht eins entgegen: das Wachstum? – fragte einer aus dem Publikum. Deutschland müsse das debattieren, in jedem Fall, meinte Gutachter Jan Gustav Strandenaes, sei „value over volume“ zu stellen, Qualität über Quantität. Der Norweger ist heute Politikberater, früher war er unter anderem Mitarbeiter der Vereinten Nationen.

Imme Scholz, als Vizedirektorin des Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik im RNE, nahm die Aussagen der Experten als „Ermutigung“. Und RNE-Vorsitzende Thieme resümierte, es sei „Zeit für Entscheidungen, die nicht sofort von jedem begrüßt werden.“ Sie richtete sich damit an die Kanzlerin.

Bundeskanzlerin Angela Merkel nahm wie in den letzten Jahren an der Jahreskonferenz des RNE teil und unterstrich in ihrer Rede: „Nachhaltigkeit hat ihren Weg in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft gefunden. Immer mehr Menschen stellen sich der Frage in der gesamten Breite, wie sie nachhaltig arbeiten können, wie sie nachhaltig konsumieren können.“ Andererseits kündigte die Kanzlerin an, dass die Bundesregierung die deutsche Nachhaltigkeitsstrategie weiterentwickeln wird. Der Gedanke der Nachhaltigkeit müsse noch konsequenter zum Maßstab des Regierungshandelns gemacht werden, so die Kanzlerin weiter. Das ist entscheidend, meinen die Gutachter. Denn in ihrem Report schreiben sie: „Wenn Deutschland es nicht schafft, wer dann?“

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